Das Herz der 6. Armee
alles versuchen«, wiederholte Knösel und machte den ersten Pfeifenzug. Es röchelte in dem hölzernen Kopf. »Hättste jejlaubt, det du einmal in 'nem Granatloch Platz hast, wat? Ick hab imma von 'nem Begräbnis jeträumt mit Fahnen, Musike, Pastoransprache und ›Leb wohl, Bruder‹ vom Kejelklub. Neese, mein Junge. Jetzt sind wir Helden!«
Während der Stille wurde Stalingrad mehrmals überflogen. Meistens waren es sowjetische Aufklärer, die über den deutschen Stellungen kreisten und fotografierten. Am Abend kroch Knösel wieder hinaus zu seinem weißen Kreuz. Eine kleine, metallen blinkende Bombe lag am Rande des Tuches. Es schien eine Verpflegungsbombe aus Aluminium zu sein.
»Hurra!« brüllte Knösel. Er boxte Rottmann in die Seite und tippte an seine Stirn. »Hier muß man et haben, Junge. Nicht verzagen – Knösel fragen … det sollte sich die janze 6. Armee merken!«
Sie liefen zu der Bombe und brachen den Deckelverschluß auf. Knösel betrachtete sie fachmännisch und grinste breit.
»Kommt vom Iwan! 'ne russische Labung! Wetten, det Sojabohnen in Tomatensoße drin sind? Oder Jrütze?«
Sie stemmten den Deckel ab und zogen einen länglichen Holzbehälter heraus. In der Holzrolle war zusammengerollte Leinwand … Knösel zerrte sie heraus, stülpte die Bombe um und sah wieder hinein.
»Is det alles?«
»Ja.«
»Noch 'n Tuch? Aufrollen, Junge.«
Er legte die Leinenrolle auf den Boden und gab ihr einen Tritt. Sie entrollte sich … ein Bild wurde sichtbar … erst Himmel … dann graue, stehende Haare … Augen mit buschigen Brauen … eine starke Nase … Schnurrbart … ein energisches Kinn … Der Kopf Stalins lachte Knösel an, riesengroß, jovial, ein auf Leinen gedrucktes Meisterwerk.
»Scheiße!« brüllte Knösel. Er hieb mit der Faust gegen die Mauer. »Solche Scheiße! Ich glaube, unsere Iwans kriegen auch nichts zu fressen …«
Immerhin war es schönes Leinen, fest und dicht.
Knösel zerriß es im Lazarettkeller in lange Streifen und wickelte sie zu Binden.
»Welch ein Luxus!« sagte Dr. Portner, als er am späten Abend den sowjetischen Oberst Sabotkin damit verband. Dr. Sukow und die Pannarewskaja standen daneben. »Um den Lungeneinschuß legen wir Stalins Schnurrbart, und auf den Bauch bekommt er die blauen blitzenden Augen des Generalissimus. Wenn das nicht die Heilung fördert, verachte ich in Zukunft alle Metaphysik …«
Dr. Sukow schwieg mit verbissenem Gesicht, Olga Pannarewskaja lächelte schwach. Sie war in neuer Sorge. Die Kampfstille hatte Dr. Körner ausgenutzt. Mit einem Sanitätstrupp war er hinaus in die Trümmerwüste gegangen, um in den Bunkern und Kellern, Unterständen und Löchern die Verwundeten zu versorgen, die man nicht hatte zum Kino bringen können.
An diesem 8. Januar 1943 schien es, als wolle das Schicksal davor zurückschrecken, Hunderttausende von Menschen einer Sinnlosigkeit zu opfern.
Durch einen Funkspruch in deutscher Sprache ließ das Oberkommando der Roten Armee dem Oberbefehlshaber der 6. Armee vor Stalingrad, Generaloberst Paulus, mitteilen, daß drei Parlamentäre sich der nördlichen deutschen Stellung nähern würden, um ein wichtiges Schreiben zu überbringen. Man bitte darum, sie zu empfangen.
Generaloberst Paulus sagte zu. Um 10 Uhr vormittags erschienen die sowjetischen Offiziere mit der weißen Fahne. Als sollte ihre Mission deutlich unterstrichen werden, schwiegen die russischen Angriffe bis auf ein Minimum. Man beschränkte sich auf die Abwehr deutscher Stoßtrupps.
Die drei Parlamentäre brachten ein Schreiben mit, das sofort an den Befehlsstand der 6. Armee weitergereicht wurde. Generaloberst Paulus und sein Stabschef, General Schmidt, studierten den Brief … es war ein Ultimatum des Oberbefehlshabers der Truppen der Don-Front, Generalleutnant Rokossowskij. Das Ultimatum lautete folgendermaßen:
»An den Befehlshaber der deutschen 6. Armee, Generaloberst Paulus oder seinen Stellvertreter, und an den gesamten Offiziers- und Mannschaftsbestand der eingekesselten deutschen Truppen von Stalingrad.
Die deutsche 6. Armee, die Verbände der 4. Panzerarmee und die ihnen zwecks Verstärkung zugeteilten Truppeneinheiten sind seit dem 23. November 1942 vollständig eingeschlossen.
Die Truppen der Roten Armee haben diese deutsche Heeresgruppe in einen festen Ring eingeschlossen. Alle Hoffnungen auf Rettung Ihrer Truppen durch eine Offensive des deutschen Heeres vom Süden und Südwesten her haben sich nicht erfüllt. Die Ihnen zu
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