Das Herz der 6. Armee
Ihre Welten sind so weit entfernt, daß sie sich nicht stören …«
Olga Pannarewskaja schien anders zu denken. Nachdem sie den Oberst Sabotkin neben Pfarrer Sanders auf einen Strohsack gelegt und sich selbst in einer Kellerecke aus einer Decke und ihrem Lammfellmantel ein Lager gebaut hatte, setzte sie sich zu dem deutschen Geistlichen. Sie sah ihn lange stumm an, und Pastor Sanders, fiebernd und zwischen Lethargie und klarem Denken schwankend, schwieg ebenfalls und sah an die tropfende, unter den Granateinschlägen zitternde Kellerdecke.
»Väterchen …«, sagte die Pannarewskaja nach einer ganzen Zeit leise. Pastor Sanders drehte den Kopf zu ihr.
»Ja?«
»Bei mir zu Hause sagte man zu den Popen Väterchen. Verzeihen Sie, wenn ich Sie ebenso nenne.«
»Wenn du mit mir über Gott sprechen willst, kannst du mich nennen wie du willst, Tochter.« Sanders richtete sich auf und schob sich gegen die Wand hoch. Die Schulterwunde schmerzte höllisch, er knirschte mit den Zähnen. Feine Knochensplitter eiterten heraus … es war, als löse sich die Schulter millimeterweise auf und schwämme mit dem Eiter davon.
»Nicht über Gott … über die Liebe …«
»Auch sie ist von Gott.«
»Nein!« Die Pannarewskaja warf den Kopf in den Nacken, ihre langen schwarzen Haare flatterten über ihr schönes eurasisches Gesicht. »Sie ist etwas Höllisches! Ein Satan hat sie gemacht!«
»Du wehrst dich dagegen?«
»Ich bin eine Russin, Väterchen …«
»Ja.«
»Ich liebe mein Vaterland. Ich liebe die Wolga, die Steppe, die Pferde, meine Brüder und Schwestern, die Wälder, den Sturm, die glühende Sonne, den Himmel über den Sonnenblumenfeldern, das Rauschen der Taiga. Ich bin von allem ein Teil … und ihr seid gekommen und wollt es uns nehmen, das Land, die Flüsse, die Wälder, die Steppe, die Felder, die Sonne und den Wind, unseren Himmel und unsere Träume von Ewigkeit. Ihr, die Deutschen!«
»Wir wollen euch nichts nehmen, Tochter.«
»Und warum liegst du hier?«
»Um die Kranken zu trösten und die Sterbenden Gott zu empfehlen.«
»Und warum sterben sie hier?«
»Weil es arme, dumme Menschen sind, verblendet und belogen, fehlgeleitet und verhetzt, Menschen, die einer Stimme gehorchen, weil sie lauter ist als ihre eigene, und vergessen, daß über allen Stimmen Gottes Wort steht und zu ihnen sagt: Liebet einander …«
»Liebe!« Die Pannarewskaja senkte den Kopf. »Warum immer Liebe, Väterchen? Ich hasse alle Deutschen, ich jubele jedem Schuß zu, der einen von ihnen tötet … und doch … und doch liebe ich einen Deutschen …«
Pastor Sanders tastete nach der Hand Olgas. Sie war heiß, als brenne sie im Fieber. Er streichelte sie und hielt sie fest, als er merkte, daß sie sich ihm entziehen wollte.
»Wie gnädig ist Gott«, sagte er langsam. »Im Inferno von Sterben und Wahnsinn gibt er dir ein Herz … Siehst du denn nicht daran, wie ewig diese Welt ist und wie winzig klein alles das, was ihr Schicksal nennt?«
Die Pannarewskaja schwieg. Sie schien zu denken. Etwas rang in ihr, man sah es deutlich. Plötzlich beugte sie sich vor und legte ihre Stirn auf die Hand Sanders'.
»Tun Sie etwas, Väterchen«, sagte sie leise. »Ich war noch klein, ganz klein, aber ich weiß es noch … Ich stand im Staub vor unserem Zaun, und da kam der Pope die Straße entlang, in einem langen schwarzen Gewand, dessen Saum durch den Staub schleifte. Ich stand da mit offenem Mund und sah Mamuschka, wie sie die Harke hinwarf, aus dem Garten rannte, hinaus auf die Straße, sich vor dem Popen in den Staub kniete und sagte: ›Väterchen, segne mich und die Kinder und das Haus und meinen Piotr, obwohl er säuft und mich täglich prügelt. Segne alles, Väterchen …‹ Und der Pope hob die Hand und segnete Mamuschka. Wie glücklich war sie, als sie zurück in den Garten lief, an mir vorbei, die ich mitgesegnet war. Sie sang sogar, und an diesem Tage schrie sie nicht, als Papuschka aus der Fabrik kam und sie wieder schlug. Das machte ihn völlig ratlos, und er ging ins Bett.« Die Pannarewskaja atmetete schwer und umklammerte die Hand von Pastor Sanders.
»Darf ich zu Ihnen, Väterchen, auch sagen: Bitte, segne mich …?« flüsterte sie.
Es kam selten vor, daß der Gefreite Knösel keine Worte mehr fand. Ein so bemerkenswertes Ereignis trat ein, als er den Packsack entrollte, den er aus der Luftwaffenbaracke von Gumrak mitgenommen hatte.
Es war eine stille Stunde in der Stadt. Entweder hatte man keine Munition mehr, oder die
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