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Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hielt … ein kleiner Zettel mit wenigen Zeilen, den ihm der Funker gereicht hatte. Ein paar Worte, ein paar heroisch klingende Sätze … das Sterben einer ganzen Armee!
    Am 9. Januar 1943 wurde das sowjetische Oberkommando benachrichtigt, den Parlamentären das Schriftstück übergeben. Es war mit Generaloberst Paulus unterschrieben. Mit dieser Unterschrift übernahm er allein die Verantwortung für das Sterben seiner Armee.
    Am selben Tag, diesem 9. Januar 1943, ging ein mysteriöser Funkspruch an alle Generalkommandos im Kessel zur Weitergabe an alle Truppenkommandeure. Absender war das Armeeoberkommando. Der Funkspruch lautete:
    »Die Truppe ist davon zu unterrichten, daß Parlamentäre in Zukunft durch Feuer abzuweisen sind.«
    Die letzte hingestreckte Hand des Lebens wurde weggeschossen. Die Kommandeure, die den Funkspruch erhielten, sahen entsetzt auf den Fetzen Papier. Der Selbstmord einer Armee war perfekt. Alle Rückfragen beim Armeeoberkommando liefen sich tot … niemand wußte, wer diesen wahnwitzigen Befehl gegeben hatte, wer für ihn verantwortlich zeichnete … Generaloberst Paulus wußte nichts von ihm, Stabschef General Schmidt, die ›Graue Eminenz‹ der 6. Armee, schwieg … aber der Befehl blieb weiterhin bestehen!
    Bis heute weiß man nicht, wer für dieses Dokument deutscher Soldatenüberheblichkeit, das einzig in der Geschichte dasteht, verantwortlich ist.
    Über Stalingrad senkte sich das Leichentuch. Es deckte 230.000 deutsche Männer zu.
    Wer kann es ihm verübeln, dem Mladschij-Sergeant Iwan Iwanowitsch Kaljonin, daß er trotz seiner vaterländischen Begeisterung zuerst nach Vera, seinem Weibchen, suchte?
    In den Kellern rund um den ›Tennisschläger‹, in denen noch immer Hunderte von Frauen, Kindern und Greisen hockten, hatte er erfahren, daß Veraschka nicht in Gefangenschaft geraten sei, wie es die Pannarewskaja gesagt hatte, sondern daß man sie noch gesehen habe, wie sie Verwundete durch die Ruinen schleifte und Frauen und Kinder durch das Feuer der deutschen MG zum Wolgaufer in Sicherheit brachte.
    »Ich bin keine Heldin«, hatte sie einmal gesagt, als ein Parteikomiteemitglied sie lobte. »Großväterchen haben sie erschossen, den guten, alten Abranow, und Iwan, meinen Mann, haben sie erschossen … was soll ich da noch auf dieser Welt? Aber ich will sterben wie sie … aufrecht und im Einsatz für das Vaterland …«
    So hatte sie gesprochen, man erzählte es Kaljonin in den Kellern, und er war stolz und doch traurig zugleich.
    »Ein dummes Vögelchen«, sagte er. »Seht, ich lebe doch!« Dann verschwand er wieder und suchte in der Trümmerwüste nach seiner Vera.
    Das Leben in den Kellern war grausam. Zweimal mußte Kaljonin helfen, ein Kind auf diese donnernde und sich in Feuer und Rauch auflösende Welt zu bringen. Da lagen die Gebärenden auf dem kalten, feuchten Kellerboden und schrien, die Nachbarinnen knieten daneben und massierten den Bauch, in einem Kessel kochte Schneewasser … weiter war nichts da. Sie mußten gebären wie die Hunde und Katzen.
    »Laßt es nicht leben, ihr Lieben!« schrie eine der Gebärenden und krallte sich in die Schultern Kaljonins, der ihre Schenkel auseinanderdrückte. »Laßt es nicht diese Welt sehen, Genossen! Tötet es, tötet es, bevor es atmet …«
    Der Keller bebte unter den Einschlägen der Granaten und Raketen. Es waren sowjetische Geschosse, die die Trümmer umpflügten. Wer wußte denn noch, wo in den Ruinen Freund oder Feind saß, wer kannte sich aus, ob das linke Haus der Straße von der Roten Armee und das rechte von den Deutschen besetzt war? Oft hockten im Erdgeschoß die Rotarmisten und in der ersten Etage deutsche Pioniere, und ein Häuserblock wie etwa eine Konservenfabrik war international … Kalmücken, Kirgisen, Weißrussen und Mongolen saßen hier hinter Steinbarrikaden ebenso wie Kölner, Sachsen, Bayern, Hamburger und Pommern. Wohin sollte man schießen?
    Kaljonin zog an dem Kopf des Kindes. Er schwitzte, der Blutgeruch verursachte ihm Übelkeit, das Schreien der Gebärenden hämmerte auf sein Hirn.
    »Zerreiß es, Genosse!« brüllte sie. »Es wird glücklicher sein, als wenn es lebt. Hab' Mitleid, Genosse … hab' Mitleid …«
    Nach der Geburt rannte Kaljonin weiter. Man hatte Vera gesehen, vor ein paar Stunden. Verwundet war sie, an der Stirn, nur ein Streifschuß. Sie sagte, sie wolle zurück zum Wolgaufer laufen, um Trinkwasser herbeizuschaffen. Und Hirse und Mehl … In einem Keller hatte sie vierzehn Frauen

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