Das Herz der 6. Armee
Polen, nach Frankreich, quer durch Rußland, er hatte in den Unterständen gespielt, bei Fronttheaterabenden, im Offizierskasino, in einer Bauernkate, in der Stolowaja eines ukrainischen Dorfes, bei der Hochzeit eines Kameraden, am Grabe eines Gefallenen. Er hatte die Flöte gehütet wie ein Goldstück, und man hatte sich daran gewöhnt, daß er neben dem Brotbeutel das Wachstuchfutteral der Flöte am Koppel trug.
In dieser Nacht nahm der Gefreite Bertram Abschied von seiner Flöte. Noch einmal spielte er sein Lieblingsstück, ein Flötenkonzert von Quantz, gewidmet dem Lieblingsschüler, dem König Friedrich von Preußen, den man später den Alten Fritz nannte. Bertram hatte es oft gespielt, in Konzerten, auf der Bühne, in Sälen. Nun blies er es zum letztenmal an einer vereisten Mauer, in der Ruine eines zerfetzten Wohnhauses, umgeben von im Frost erstarrten Leichen, bei 40 Grad Kälte, unter einem erbarmungslosen russischen Himmel, eingekreist von flammendem Tod, mit vor Hunger bohrenden Därmen. Er zwang sich, mit den zitternden Fingern die richtigen Töne zu greifen, und es war eine unmenschliche Anstrengung, aus dem verhungerten Leib die Luft herauszublasen. Aber er tat es … er saß an der Mauer, mit geschlossenen Augen, und trällerte die Galanterie des Rokoko über die Trümmer und Toten von Stalingrad.
Dann war das Stück zu Ende. Der Gefreite Holger Bertram sah seine Flöte an, nahm das Mundstück ab und steckte es in die Tasche. Er kroch zurück in seinen Keller, zerbrach die Flöte über den Knien und begann, das Holz auf einer Reibe abzuraspeln. Aus dem Holzmehl kochte er eine Suppe, zusammen mit Gras, das er unter dem Schnee herausgekratzt hatte.
Die Flöte würde für vier Suppen reichen, das rechnete sich der Gefreite Bertram aus. Vier Tage etwas im Bauch. Wer weiß, was in vier Tagen sein wird … in vier Stunden … in vier Minuten …
Als er seine Suppe aß, hatte er wieder die Augen geschlossen. Er kam sich wie ein Kannibale vor …
13
Die Pannarewskaja blieb verschwunden. Dr. Körner verstand es nicht und wurde wortkarg und apathisch. Dr. Sukow schwieg. Nur ab und zu sah man ihn unruhig auf der Kellertreppe stehen und hinüber zu den sowjetischen Stellungen starren. Seit dem Weggang der Pannarewskaja wurde er bewacht. Es ließ ihn gleichgültig, ob immer ein deutscher Soldat hinter ihm stand. Er hatte nicht die Absicht, zu flüchten. Im Keller lag Oberst Sabotkin, ein ›Held der Nation‹. Bei ihm mußte er bleiben. Daß es nur noch kurze Zeit sein würde, war ihm klar; er sah, wie sich eine Armee auflöste, wie sie Stück um Stück verfaulte. Es war selbst für einen Mann wie Sukow ein grauenhafter Anblick.
Der Kessel war weiter eingedrückt worden. Noch gab es den Flugplatz Gumrak, aber die sowjetischen Panzer standen nahe davor. Es war eine Frist von Stunden, bis auch dieser letzte Flugplatz verlorenging. Mit ihm ging das letzte Auge des Himmels verloren. Von da ab würde selbst Gott blind sein.
170.000 deutsche Soldaten, der Rest von 330.000, krallten sich in die Eissteppe, in die Trümmer der Dörfer und Vororte, in die Hänge des Tatarenwalles, in die Bahnschwellen bei Stalingradski. Sie taumelten in ihren Löchern, sie starrten mit hohlen, fiebernden Augen auf die Kolosse der sowjetischen Panzer, hinter denen die dunklen Menschenwellen der Rotarmisten heranrollten. Und sie schossen immer noch, sie starben um einen Meter Land, um ein Schneeloch, einen Wall aus Eisklumpen … Warum, das wußten sie nicht. Sie konnten nicht mehr denken. Alles in ihnen war leer … der Magen, der Darm, der Kopf, die Seele … Sie lagen oder standen da in Schnee und Eis und schossen, solange sie Munition hatten … dann krochen sie zurück, wurden niedergewalzt, wie Hasen abgeknallt, verbrannten im zischenden Ölstrahl der Flammenwerfer oder wurden von Stalinorgeln zerfetzt. Und sie schrien nicht einmal dabei … sie starben lautlos, es war ihnen völlig gleichgültig, sie sahen den Tod, sie krochen oder liefen noch ein wenig, aber ihr Inneres war leer, und wenn sie in den Schnee kippten, kam endlich die große, ewige Ruhe über sie. Durst macht irrsinnig … sie hatten nie Durst gelitten, denn es gab Schnee genug, den man im Munde auftauen konnte … Hunger macht apathisch, und das waren sie, beim Schießen, beim Weglaufen, beim Sterben. So wurde der Hunger zum Freund der Opfer.
Bei einem Inspektionsgang zu seinem Markierungstuch stieß Knösel auf einen anderen deutschen Landser. Er saß an der
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