Das Herz der 6. Armee
den lochartigen, dunklen, nur von einem Hindenburglicht erhellten Raum.
»Da – Aba paß uff, da liegt noch 'n strammer Oberst drin! Such dir 'ne dunkle Ecke aus …«
Kaljonin riß sich von der Umklammerung Knösels los. Er stürzte in den kleinen Keller, der Windstoß, den sein Körper erzeugte, blies die jämmerliche Kerzenflamme aus.
»Veraschka!« schrie er. »Täubchen! Herzchen!«
Dann war es still. Knösel schob den Kopf etwas vor. Er hörte ein paar Seufzer und das Geräusch eines Kusses. Dann war es wieder still. Still und dunkel.
Knösel schob die Unterlippe vor und ging. »Die jönnen eenem ooch jar nischt«, sagte er brummend. Er stopfte seine Pfeife, stieg die Treppe hinauf und setzte sich in ein vereistes Granatloch. Die sowjetische Artillerie hämmerte noch immer in die Ruinen … irgendwo klirrten Ketten und röhrten Motoren. Panzer. Sie hoppelten über die Straßen und nahmen deutsche MG-Stellungen unter direkten Beschuß.
Knösel zog eine alte Decke über seinen Helm, legte die Hände um den Pfeifenkopf und schmatzte. Es war eine köstliche Viertelstunde. Guter Machorka und warme Hände. Und Knösel war bereit, darauf zu schwören, daß Machorka in der Pfeife besser wärmte als Matratzenfüllung.
Am 23. Januar 1943 trat die Rote Armee zum Begräbnis der deutschen 6. Armee an. Der Befehl lautete ganz kurz: Aufspaltung des Kessels. Mit ungeheurer Überlegenheit an Material und Menschen, mit der erdrückenden Wucht von Panzerdivisionen, mit dem Mut frischer, gut ernährter Reserven, die man aus der Weite Sibiriens herangeschafft und über die vereiste Wolga geworfen hatte, mit dem bis zum Haß gesteigerten Willen, die Deutschen zu vernichten, koste es, was es wolle, rollten die sowjetischen Korps gegen den deutschen Abwehrring.
Sie fanden in den Schneelöchern Gespenster, aber keine Menschen mehr. Gespenster, die schossen und starben, Gespenster, die schneeblind herumliefen, die wie Katzen auf die Panzer sprangen, alte Säcke vor die Sehschlitze hielten und geballte Ladungen unter die Geschütztürme schoben. Gespenster, die ihnen entgegenzogen, mit einer weißen Fahne, auf die ein rotes Kreuz gemalt war, winkend, und als sie näherkamen, waren es aufrecht gehende Leichen, die auf Brettern andere lebende Leichen hinter sich herzogen. Es war so grauenhaft, was da aus den Bunkern und Kellern kroch, was in den Granattrichtern überrannt wurde oder bettelnd die Arme aus den Schneelöchern hochreckte, daß selbst die Rotarmisten zugriffen, statt zu schießen.
Am 22. Januar eroberten die Sowjets den letzten deutschen Flugplatz Gumrak. Sie kamen in ein Leichenfeld, das unvorstellbar war. Sie eroberten eine Armee von Verwundeten, Krüppeln, Sterbenden, Fiebernden, Wahnsinnigen. Dazu ein paar Stabsärzte und Sanitäter und einen Pfarrer.
Für den Nachschub im Kessel blieb nur noch der Notflughafen Stalingradski übrig, für einen Nachschub, den es nicht mehr gab. Aber die Nachricht allein genügte, daß Stalingradski das letzte Loch nach Westen sei, und schon wälzten sich Tausende Verwundeter durch die Steppe, durch Eis und Schnee, durch Panzer- und Artilleriebeschuß, durch Bombenhagel und Stalinorgelgeheul zu dem armseligen Nest in der Nähe des Tatarenwalls. Dort fielen sie, wie in Gumrak, in den Schnee und erstarrten. Es gab für sie kein Entrinnen mehr.
Die späte Erkenntnis des Generals Schmidt, die der Pionierführer Oberst Seile, der am 22. Januar als einer der letzten aus dem Kessel ausgeflogen wurde, um als Kurier im Führerhauptquartier die Wahrheit zu sagen und noch einmal um Unterstützung und um die Erlaubnis des Ausbruchs zu bitten, erschüttert mitnahm, nützte ihnen auch nichts mehr:
»Sagen Sie es überall, wo Sie es für angebracht halten, daß die 6. Armee von höchster Stelle verraten und im Stich gelassen worden ist.«
Generaloberst Paulus gab am 24. Januar in höchster Verzweiflung an die Funkleitstelle des Oberkommandos des Heeres den Hilferuf durch: »Truppe ohne Munition und Verpflegung, erreichbar noch Teile von sechs Divisionen, Auflösungserscheinungen an der Süd-, Nord- und Westfront. Keine einheitliche Befehlsführung mehr möglich … 18.000 Verwundete ohne Mindesthilfe an Verbandszeug und Medikamenten … Front infolge starker Einbrüche vielseitig aufgerissen. Stützpunkte und Deckungsmöglichkeiten nur noch im Stadtgebiet, weitere Verteidigung sinnlos. Zusammenbruch unvermeidbar. Armee erbittet, um noch vorhandene Menschenleben zu retten, sofortige
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