Das Herz der 6. Armee
Beim Aufschneiden einer Zyste habe ich ihn von oben bis unten bespritzt … das hat er mir nie vergessen. ›Aha, da ist ja der Portner, der seinen Chef wässert‹, sagt er seitdem immer. Tja, und Professor Abendroth hat meinem Vorschlag zugestimmt, Sie für diese dusselige Kommission abzustellen … Das ist alles!« Dr. Portner faßte mit der großen Pinzette in die Tiefe der zuckenden Wunde. »Die Sehnen sind auch hin! Wenn er überlebt, wird er rechtsseitig wie ein Holzpflock sein …«
Stumm operierten sie weiter. Neue Verwundete spie die Trümmerwüste aus … oben kroch eine staubüberzogene Gestalt durch die Ruinen und brüllte um Hilfe. Auf Handflächen und Knien kroch sie herum, und über ihr Gesicht floß das Blut aus einem klaffenden Schlitz, der von Schläfe zu Schläfe ging, über beide Augen hinweg. Mit einem Armschuß war der Mann zum Sanitätsbunker gelaufen. Kurz vor der Treppe explodierte seitlich von ihm eine Granate und riß ihm das Gesicht auf.
»Hilfe!« brüllte er. »Meine Augen! Meine Augen!«
Zwei Sanitäter warteten, an die Kellerwand gedrückt, bis der Feuerüberfall vorbei war und südwärts wanderte. Dann stürzten sie hinauf und schleiften den Schreienden hinunter in den Bunker.
In den nächsten 48 Stunden ging alles sehr schnell. Die Funkstelle der Division, zu der der Hauptverbandsplatz Dr. Portners gehörte, nahm den Befehl auf, Assistenzarzt Dr. Körner sofort nach Pitomnik abzustellen.
»Für Sie bedeutet es Frieden und vielleicht sogar Überleben«, sagte Dr. Portner. Nach zwanzig Stunden am Operationstisch saßen sie in ihrem winzigen Schlafkeller und tranken Tee. »Wenn Sie zurückkommen, wird sich manches verändert haben.«
In diesen Stunden traf auch Knösel wieder ein. Plötzlich stand er im OP und meldete: »Obergefreiter Schmidtke als Versprengter zur Stelle …«
Die Situation war nicht ungewöhnlich. Als Knösel nach Erfüllung seines Auftrages zu seiner Truppe zurückkehren wollte, fand er keinen mehr vor. Wo der Kompaniegefechtsstand war, gähnte jetzt ein tiefes Loch, die Gräben und Steinbunker waren verlassen bis auf die Toten, die in bizarren Stellungen herumlagen. Zusammengeschrumpft, verkohlt. Flammenwerfer.
Einen ganzen Tag war Knösel in der Trümmerwüste herumgeirrt. Gegen Abend saß er allein im Erdgeschoß eines Hauses und verhielt sich still, denn über ihm, im ersten Stockwerk, saßen die Sowjets und bestrichen mit drei MGs den Umkreis. Es war überhaupt alles verwirrt. Es gab kein Vorne und Hinten mehr; überall hockten Russen und Deutsche, in der Erde, in geborstenen Häusern, in Laufgräben, in Unterständen aus Stein oder verkohlten Balken. Es gab keine Front mehr … Plötzlich tauchte hier oder da jemand aus den Trümmern auf, und dann knallte es von allen Seiten.
Knösel saß auf einem Sack voller Büchsen und grübelte. Sein Versprechen hatte er eingehalten … er hatte in Pitomnik organisiert. Fleischbüchsen, Kekse, Marmelade, Bonbons, Schokolade, Nudelpakete, Bouillonwürfel, Erbswürste und Apfelsinen. Darauf war er besonders stolz. An dem Tage, an dem Dr. Körner heiratete, lud man hundert Zentner Apfelsinen aus. Der Stabszahlmeister, der die Ware in Empfang nahm, beorderte sofort vier Feldgendarmen zum Lager, um die wertvolle Ladung zu schützen. Sie wurde verbucht und zunächst auf Lager genommen. Apfelsinen gehören nicht zur normalen Truppenverpflegung. Man mußte also noch genau durchdenken, wie und wo man die hundert Zentner Südfrüchte verteilte. Man mußte einen Verteilerschlüssel ausrechnen. Auch war nicht klar, ob man die Apfelsinen als Sonderverpflegung ausgeben sollte oder als Marketenderware. Es war schon ein Problem für die Wehrmachtsbeamten, und es war vorauszusehen, daß es nicht eher gelöst sein würde, bis die Apfelsinen verfault waren. Einen Vorwurf traf niemanden, denn bei einer straffen preußischen Ordnung ist es ja unmöglich, die Südfrüchte einfach an die kämpfende Truppe weiterzugeben. Niemand war bereit, die Verantwortung für diese Bevorzugung der Stalingrad-Stadt-Kämpfer zu übernehmen, denn auch die Transportkompanien leisteten Unmenschliches, die Werkstätten, der Troß, die Stäbe, die Bäckereien, Küchen, Fleischereien und die Verwaltungsstellen. Jedem stand also eine Apfelsine zu … Der Stabszahlmeister stöhnte vor diesem Problem.
Für Knösel gab es diese Probleme nicht. Er entdeckte ein loses Brett in der Barackenwand, untersuchte es fachmännisch, denn Hans Schmidtke war in
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