Das Herz der 6. Armee
letzte Fährverkehr eingestellt werden mußte. Und dann? Wie kam Munition nach Stalingrad? Wie Verpflegung? Wie Sanitätsmaterial?
»Drei Wochen wird's dauern, Brüderchen«, sagte Abranow immer. »Dann ist die Decke zu …«
Drei Wochen ohne Munition. Man sah den Greis an und schwieg. Wer kann einen alten Ziegenbock ein anderes Meckern lehren?
Erst am späten Vormittag kam Dr. Körner wieder aus seinem Zimmer. Er hatte sich die Hand verbunden und sah verfallen und übernächtigt aus. Es schien, als habe ihm der vergangene Tag zehn Jahre seiner Jugend genommen. Das bisher jungenhafte weiche Gesicht war kantig geworden, von einem festgefressenen Trotz, der erschreckend war, wenn man Körner von früher her kannte.
Der Chefportier kam auf ihn zu, als er unschlüssig in der Halle stand.
»Guten Morgen, Herr Mediziner«, sagte der wendige Pole. Er trug einen dunklen, festlichen Anzug und hatte einen silbergrauen Seidenschlips umgebunden. Die schwarzen Haare glänzten und dufteten nach Rosenpomade. »Ich hätte Ihnen das Frühstück auch auf dem Zimmer servieren lassen.« Dabei sah er fragend auf die verbundene Hand.
»Danke. Ich habe keinen Appetit.« Dr. Körners Stimme war abgehackt und rauh. »Was macht Fräulein Baltus?«
»Sie ist schon weggegangen. Ich habe die Dienststelle gefunden aufgrund ihrer Zuweisung.« Der Chefportier sah sich um. Sie waren allein in der Halle. Im Frühstückszimmer tönte Musik aus dem Radio. Märsche und markige Lieder. »Heute morgen hat die russische Offensive begonnen«, sagte er leise und beugte sich zu Körner vor. »Am Don und am Tschir … die ganze Front ist aufgerissen …«
Dr. Körner starrte den Chefportier ungläubig an. »Das ist doch nicht möglich«, sagte er heiser.
»Es ist so, Herr Mediziner. Sowjetische Panzerdivisionen sind weit im Rücken der deutschen Armeen.«
»Woher wissen Sie denn das?«
Der Chefportier lächelte und hob beide Hände. »Man hat seine Informationen, Herr Mediziner. Ohne Informationen gäbe es auch in Polen keine Hoffnung mehr …«
Dr. Körner atmete tief. Zurück nach Stalingrad, dachte er. Was soll ich noch hier? Marianne ist erstickt … ich war schon Witwer, als ich heiratete … In der Wolgastadt krallen sie sich in die Trümmer und zerfleischen sich um einen Keller oder ein Granatloch … in der Heimat werden die Frauen und Kinder von den Bomben zerfetzt … die Fronten sind aufgerissen und Zehntausende sterben in der Steppe. Warum sieht keiner diese Sinnlosigkeit?
Er merkte nicht den Widerspruch zwischen seinen Gedanken und seinem Wunsch, zurück nach Stalingrad zu gehen. Es war die gleiche Sinnlosigkeit, von der man nicht begreift, daß sie einen Menschen so völlig beherrschen kann.
»Sie hassen uns, nicht wahr?« fragte Dr. Körner unvermittelt. Der Chefportier zuckte zusammen.
»Sie nicht, aber nein, Herr Mediziner.«
»Aber uns Deutsche …«
Der Pole schwieg. Er sah Dr. Körner groß an, und sein Blick schien zu sagen: Begreifst du das nicht?
»Als Napoleon I. Deutschland besetzt hatte, nannte man jeden Widerständler einen Freiheitshelden. Heute nennt man die Freiheitshelden, die sich gegen die deutsche Besatzung wehren, Partisanen und hängt sie auf. Bitte erklären Sie mir das, Herr Mediziner: Gibt es Helden nur in Deutschland?«
»Sie haben recht.« Dr. Körner sah auf den geschniegelten Polen herab. »Sie haben sich festlich gekleidet … Sie feiern still die deutsche Niederlage …«
Der Chefportier lächelte schwach. »Ich liebe mein Land.«
Dr. Körner senkte den Kopf und wandte sich ab. »Ich wünschte, ich könnte es auch noch«, sagte er dabei. Der Pole hielt ihn am Ärmel fest.
»Was werden Sie tun?«
»Wieso? Ich kehre nach Stalingrad zurück.«
»Das ist doch Irrsinn.«
»Vielleicht. Aber wo soll ich hin? In den Kellern habe ich Freunde und Kameraden, die mich brauchen. Was habe ich hier? Was habe ich überhaupt noch?«
»Ihr Leben und Ihre Jugend, Herr Mediziner. Ich kann Sie bei Freunden unterbringen …« Der Pole wurde ernst und beugte sich zu Dr. Körner vor. »Es wird eine Zeit kommen, wo wir Ärzte gebrauchen können … und Freunde …«
»Ich … ich verstehe Sie nicht«, sagte Dr. Körner rauh.
»Sie wollen es nicht verstehen … Ziehen Sie die Uniform aus, tauchen Sie unter … ich werde Sie wegbringen, wo Sie sicher sind. Sie werden überleben können, Herr Mediziner …«
»Das nennt man desertieren.«
»Man nennt es: sich retten.«
»Und die Kameraden an der Front, deren Arzt
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