Das Herz der 6. Armee
denn Portner und Körner operierten in zwei Schichten. Neun Sanitäter waren ihnen neu zugeteilt worden, und Wallritz hatte die Aufgabe, nicht nur den reibungslosen Ablauf in den Lazarettzelten zu überwachen, sondern auch die neun Sanis so einzusetzen, daß zwei immer bei den Operationen zugegen waren, vier mit den Tragen unterwegs waren und drei sich um die Neuzugänge kümmerten und sie für die beiden Ärzte vorbereiteten. Um die Verwundeten, die aus dem Kessel geflogen wurden, kümmerte sich Dr. Portner selbst. Es war zweimal vorgekommen, daß er mit der Pistole in der Hand dafür gesorgt hatte, daß seine Verwundeten eine Transportmaschine bekamen.
In dieser Nacht war es ruhig. Der heulende Schneesturm ließ keine Transporte mehr durch. Irgendwo auf dem Wege von Stalingrad nach Gumrak waren die Sanitätsfahrzeuge festgefahren, sie suchten Schutz in Schluchten und im Tatarenwall oder wurden einfach eingeschneit.
Feldwebel Wallritz hatte sich gerade auf seine strohgefüllte Trage gelegt und war dabei, einzuschlafen, als ein Windzug vom Eingang her die Notbeleuchtung aufflackern ließ. Wallritz richtete sich auf und sah gegen den Eingang eine dunkle Gestalt im Zelt stehen.
»Was ist, Knösel?« fragte er und gähnte. »Mensch, geh ins Stroh … oder haste wieder 'nen Elefanten gesehen?«
»Horst«, sagte eine leise Stimme. »Horst … bist du es …?«
Feldwebel Wallritz war einen Augenblick wie gelähmt. Dann schnellte er von seiner Trage hoch und drehte den Handscheinwerfer an. Voll traf der Lichtstrahl ein schmales, verzerrtes, eingefallenes, schneeverklebtes Gesicht. Ein Arm fuhr hoch und legte sich über die geblendeten Augen.
»Sigbart«, sagte Wallritz mit zugeschnürter Kehle. »Wo kommst du denn her …?«
»Ich habe dich gesucht.« Der junge Soldat sank gegen den Küchentisch, auf dem Dr. Portner sonst operierte … dann knickten die Knie ein, und er fiel Wallritz in die Arme. Der Feldwebel schleppte den Jungen zu seiner Trage und legte ihn auf das Stroh und die Decken. Dann holte er eine Thermosflasche mit heißem Tee, eine Schüssel mit Schneewasser, riß die Uniform des Jungen vor der Brust auf und wusch ihm mit dem kalten Wasser das vereiste Gesicht, die Brust, die Schultern … er rieb, bis die fahlweiße Haut rot wurde und die Hand des Jungen sich hob und den Arm von Wallritz festhielt.
»Laß, Horst … es ist schon gut. Ich habe dich gefunden … mein Gott, hatte ich eine Angst, dich nicht zu finden.«
Er schlug die Augen auf und sah Wallritz fast glücklich an. Dann verdunkelten sich die Augen, und plötzlich weinte er, lautlos, mit zuckendem Gesicht. Er umklammerte die Hand des Feldwebels und kroch an ihn heran, als sei er ein Tier und suchte Schutz.
»Woher weißt du, daß ich hier bin?« fragte Wallritz tonlos, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte. »Junge, wo kommst du überhaupt her?«
»Aus der Stadt …« Der junge Soldat hielt die Hände des Feldwebels fest, als könne er ohne deren Schutz ertrinken. »Ich war in der Funkbude … weißt du … ich bin doch Funker geworden … und da haben wir die einzelnen Funksprüche abgehört … und einer war darunter, der meldete, daß sich der HVP III mit Stabsarzt Dr. Portner absetzte … und ich wußte doch, daß du bei einem Dr. Portner warst … im letzten Brief an Mutter hast du es geschrieben … und in der Nacht habe ich das Regiment angepeilt und gefragt, ob das stimmt … ob ein Feldwebel Wallritz auch nach Gumrak ist … Kumpel, das ist mein Bruder, habe ich dem anderen Funker gesagt, ich heiße auch Wallritz … ich habe meinen Bruder seit Mai nicht mehr gesehen … Ja, und dann war es so … ich wußte, daß du in Gumrak bist …«
Feldwebel Wallritz löste sich aus dem Griff seines Bruders und trank einen Schluck Tee. Seine Kehle war trocken und rauh, das Schlucken war, als müsse er den Speichel über ein Reibeisen pressen.
»Ja … und? Warum bist du jetzt hier? Bist du verwundet, Sigbart?«
»Nein.« Der Junge sah seinen älteren Bruder flehend an. Wie ein Kind, das etwas angestellt hat und nun um Verzeihung und um Verständnis bittet. »Ich bin desertiert …«
»Was bist du?« Wallritz spürte, wie es bis unter seiner Kopfhaut eiskalt wurde. Desertiert, dachte er. Das bedeutet Erschießen. Wegen Feigheit vor dem Feind. Auch im Kessel von Stalingrad arbeiten noch die Feldgerichte. Jeden Tag wird jemand hingerichtet … wegen Feigheit, wegen Plünderung, wegen Kameradendiebstahl, wegen Befehlsverweigerung
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