Das Herz der 6. Armee
sowjetischen Panzern fuhr. Erst als die Batterien von den Russen niedergewalzt wurden, war klar, daß es diesesmal echte Sowjets waren. Tja, lieber Portner … der Mist ist vollkommen.«
Dr. Portner sah seinen alten Lehrer und Doktorvater fast mitleidig an. Da hockte der Chef einer großen Universitätsklinik in Generalsuniform im Kessel von Stalingrad, am Rande eines einsamen Steppenflugplatzes und versuchte, in das Durcheinander seines ebenfalls überrollten und zersprengten Sanitätswesens Ordnung und damit ausreichende Arbeitsbedingungen zu bringen. Soweit die Truppenärzte über Verbände und Medikamente verfügten, wurde in Erdhöhlen oder Bauernkaten, Zelten oder Kellern, Trümmerbunkern oder Eisenbahnwagen operiert und gerettet, was zu retten war. Auf den abenteuerlichsten Wegen tauchten diese Verwundeten dann in Pitomnik oder Gumrak auf, die Gehfähigen zu Fuß, die Schwerverletzten mit Nachschubwagen oder Schlitten oder auch nur auf einem Brett, das die Kameraden an Bindfäden hinter sich her über die vereiste Steppe zogen. Auf den beiden Flugplätzen wurde dann aussortiert … die einen bekamen ihr ›Lebensbillet‹ um den Hals, die anderen lagen herum, in den Erdhöhlen oder den russischen Güterwagen … eine Armee des Elends, um die sich kaum einer kümmern konnte, weil immer neue Transporte von der Nordfront und aus der Stadt kamen und die Zelte und Erdbunker füllten wie Sardinenbüchsen.
In dem großen Eisenbahnwaggon-Lazarett auf dem Bahnhof Gumrak traf Dr. Körner auch Paul Webern, den katholischen Feldgeistlichen, der ihn in Pitomnik getraut hatte. Sie kamen aufeinander zu, als seien sie alte Bekannte und drückten sich die Hand. »Gott segne Sie«, sagte Pfarrer Webern. »Im ersten Augenblick hatte ich Sie nicht wiedererkannt. Die letzten Wochen haben uns um Jahre älter werden lassen.« Er stand vor einer Reihe Waggons, aus denen Stöhnen und lautes Sprechen hinaus in den eiskalten Tag drangen. Wie jeden Tag vor Beginn der Abenddämmerung, die schnell zur Nacht wurde, ging Pfarrer Webern noch einmal von Waggon zu Waggon, betete und tröstete, brachte Decken und Brote, die er tagsüber aus den einfliegenden Transportmaschinen organisierte. Er segnete die Gestorbenen und sprach mit den Sterbenden von der Schönheit der Ewigkeit in Gott.
Dr. Körner senkte den Blick. Die Erwähnung Gottes kam ihm in diesen Minuten irgendwie sinnlos vor. Er war als gläubiger Katholik erzogen worden, und er hatte in dieser stärkenden Welt des Glaubens gelebt, obgleich seine Umwelt und selbst sein eigenes Leben sich grundlegend änderten. Sein Onkel, der ihn aufzog, nachdem die Eltern bei einem Schiffsunglück ertrunken waren, war Parteigenosse und SA-Führer. Er brachte den ihm anvertrauten Hans Körner in die HJ und später in den NS-Studentenbund und bearbeitete ihn seit Jahren mit den verlockendsten Aussichten, die ein Arzt der Großdeutschen Wehrmacht habe. Die katholische Erziehung lief nebenher als zweites Gleis, wurde geduldet und nach außen hin verschwiegen. Sie war ein Vermächtnis von Professor Körner, dem Vater von Hans, der als Jurist die Größe christlichen Verzeihens erkennen und schätzen lernte.
Dies alles war durch ein Telegramm in Warschau zerbrochen wie eine morsche Mauer, hinter der sich bisher ein anderes Gebäude verborgen gehalten hatte … eine Welt voll Nihilismus und in Sarkasmus eingebettete Ratlosigkeit. Und jetzt sprach Pfarrer Webern von Gott, der ihn segnen sollte … es war wie Hohn und griff ihm doch an das Herz. »Es hat sich viel geändert«, sagte Dr. Körner leise. Er lehnte sich gegen einen der russischen Waggons und stellte den Kragen seines Mantels hoch. Pfarrer Webern schlug mit den Armen um seinen Körper; er fror, denn der dünne Mantel war alles, was er gegen die eisige Kälte und den Steppenwind trug. Seinen Lammfellmantel hatte er abgegeben … in ihn hatte man einen Verwundeten eingewickelt, der halbnackt aus einem Schlitten ausgeladen worden war. Er hatte die halbe Brust durch Minensplitter zerfetzt, auf dem Hauptverbandsplatz mußte man ihm die Uniform vom Körper schneiden, hatte ihn operiert, und so gut es ging, verbunden, in eine Decke gehüllt und auf den Schlitten gelegt zur Weiterfahrt nach Gumrak. Dort kam er halb erfroren an und war einer der glücklichen Unglücklichen, die einen Fahrschein zum Flug in das Leben um den Hals gebunden bekamen.
»Sie sagen das so merkwürdig, Doktor?« Pfarrer Webern blies in seine vereisten Handschuhe. »Bitte, sagen
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