Das Herz der 6. Armee
Verpflichtung haben, mich hier herauszuholen …?«
»Aber wie denn, Junge? Wie denn?« stöhnte Wallritz.
»Mit einem der Flugzeuge …«
»Es werden nur Verwundete und Kranke herausgeflogen …«
Sigbart Wallritz ließ sich zurück in das Stroh fallen. Er hielt noch immer die Hände seines Bruders umklammert.
»Dann mach mich krank«, sagte er entschlossen. »Du hast die Möglichkeit dazu …«
Sanitätsfeldwebel Wallritz sah seinen Bruder entsetzt an. Der Brief lag zwischen ihnen auf dem Boden wie ein dummer, kleiner Grenzstein, der zwei Welten trennt.
»Du bist verrückt«, sagte Wallritz heiser. »Du bist total verrückt …«
»Verrückt, weil ich leben will? Für Mutter leben? Nicht für das Vaterland, die Nation, die neue Generation … das sind doch alles dumme, blöde Schlagworte, die ihr uns eingeimpft habt und nach deren Melodie wir losmarschiert sind … bis nach Stalingrad. ›Unsre Fahne flattert uns voran …‹ Wo ist sie? Wo sind die Ideale, die ihr uns vorgegaukelt habt? Hier sterben Hunderttausende, in der Heimat liegen sie unter den Bomben oder kommen in die KZs, wenn sie sagen, was sie denken – wie Vater –, und du sitzt hier in einem Zelt, hast eine Binde mit einem roten Kreuz um den Arm und fühlst dich als Retter der Hilflosen … Wer macht sie denn hilflos? Wer läßt ihnen denn die Glieder wegschießen? Wer füllt die Granattrichter mit Leichen und schreibt dann Briefe: Gefallen für Führer und Vaterland? Wer hat uns denn Hölderlin vorgelesen: ›Schön ist's zu sterben fürs Vaterland …‹? Wer denn? Ihr, die geborenen Uniformträger. Die Heilschreier. Die neuen Menschen. Und du hast mich in diesen Strudel hineingerissen … aber ich will wieder heraus … heraus … heraus …«
Seine Stimme war fast ein Schreien geworden. Wallritz drückte die flache Hand auf den Mund seines Bruders und schob ihn auf das Strohlager zurück.
»Halt den Mund, Sigbart … oder willst du an irgendeinem Telegrafenmast von Gumrak hängen? Du bist desertiert …«
»Ich habe mir nur die Freiheit zurückgeholt, die ihr mir genommen habt … weiter nichts.«
»Du hast einen Eid geleistet …«
»Ich fühle mich nicht daran gebunden, wenn ich diese Verbrechen um mich herum sehe.«
»Welche Verbrechen? Daß wir vielleicht eine Schlacht verlieren? Daß wir Stalingrad aufgeben müssen? Ist das ein Grund, kopflos wegzurennen und alles zu verdammen? Sind noch nie Schlachten verloren worden? Wenn Friedrich der Große bei Kunersdorf –«
»Hör auf. Hör auf.« Sigbart Wallritz warf die Arme hoch. »Thema: Der alte Fritz. Heimabend der Gefolgschaft 3 am Freitagabend. Es ist zum Kotzen mit euch.« Er drehte sich auf die Seite und starrte seinen Bruder an. »Wenn du hier verrecken willst, für Führer und Vaterland, so ist das deine Sache, Horst. Ich aber will es nicht. Ich will weiterleben, weil Mutter sonst keinen mehr hat … Vater werden sie verschwinden lassen, du gehst in den schönen Heldentod, der dir ja Erfüllung deiner völkischen Aufgabe sein muß … aber Mutter? Was wird aus Mutter? An sie denkt keiner … keiner denkt bei den Kriegen an die Mütter … sie sind für Staatsmänner und Militärs das Unwichtigste auf der Welt. Sie durften nur die Söhne gebären … sie durften sie aufpäppeln, ihnen das Gehen beibringen, das Essen, das Sprechen, das Beten … und wenn sie dann lange Hosen tragen, nimmt man sie ihnen weg, steckt sie in eine rauhe Uniform und sagt: So, jetzt seid ihr Deutsche. Ihr habt eine Tradition … im Marschieren und im Krepieren. Haltet sie hoch, diese Tradition … marschiert um die halbe Welt und krepiert in Ost und West, Nord und Süd. Wofür, das dürft ihr nicht fragen … ihr seid doch gute Deutsche, die gelernt haben, zu gehorchen und dem Leithammel nachzutrotten, auch wenn es in den Abgrund geht. Und vor jeder Silber- oder Goldlitze steht ihr stramm, vor jedem Streifen an den Hosen scheißt ihr euch vor Ehrfurcht in die grauen Hosen, und wenn ein Mann in die Menge brüllt: ›Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in der Welt‹ oder ›Deutschland erwache‹, dann werdet ihr pervers und seid zum Selbstmord bereit.« Sigbart Wallritz schlug sich mit beiden Fäusten gegen die Stirn. »Daß du das nicht siehst, Horst … daß du so verbohrt bist …«
Feldwebel Wallritz schwieg. Er sah auf den Brief, der auf dem Boden lag, zwischen sich und seinem Bruder. Er sah die Schrift seiner Mutter, fühlte ihre vorsichtigen Worte und hinter ihnen die Qual, die
Weitere Kostenlose Bücher