Das Herz der 6. Armee
Sie mir jetzt nicht, was ich schon tausendmal gehört habe und jeden Tag hundertmal immer wieder höre: Wo ist Gott? Warum läßt er Stalingrad zu? Warum verhindert er Kriege nicht? – Das werde ich immer wieder gefragt, und immer wieder muß ich antworten: Daß es Kriege gibt und die Menschen sich hassen, ist ihre Abkehr von Gott. Wir sind geschaffen, einander zu lieben … daß wir uns totschlagen, ist das Erbe von Kain und Abel … Und daß wir denen gehorchen, die Mord predigen und nicht Frieden, ist ein Geheimnis der menschlichen Seele, das wir nie ergründen werden.« Pfarrer Webern sah Dr. Körner fragend an. »Verstehen Sie mich, Doktor?«
»Nicht mehr, Herr Pfarrer.« Körners Stimme war heiser und gepreßt. Er zeigte auf die Reihe der Güterwaggons, die überquollen von Verwundeten. »Was haben diese armen Kerle da getan? Hat man sie gefragt, ob sie nach Stalingrad wollten? Hat man sie überhaupt je gefragt?«
»Kriege sind immer ein Massenwahn. Ein paar Gehirne denken sich Gründe aus, und die Millionen beginnen zu marschieren … Es sind Urtriebe … Eine andere Erklärung finde ich dafür nicht. Es ist ein Massensterben der Vernunft. Eine ganze Armee ist jetzt im Kessel, fast dreihunderttausend Menschen, und sie alle werden fragen: Warum? Nehmen wir an … diese dreihunderttausend schreien es hinaus, grell, eine Riesenwoge der Vernunft – Warum? – glauben Sie, Doktor, daß sich irgend etwas ändert? Das ist das Geheimnis, vor dem selbst Gott machtlos steht … Er kann jetzt nur noch die Verzweifelten trösten und ihnen das bessere Leben jenseits der Erde versprechen …«
»Ein Versprechen, dessen Einlösung keiner bekunden kann«, sagte Dr. Körner hart. Pfarrer Webern biß die Zähne zusammen. Er nickte zu den Waggons und zu den zerfetzten Körpern hinüber, die nebeneinander in dem fauligen Stroh lagen, mit durchgebluteten Verbänden, eiternden Wunden und fiebrigen Augen.
»Ihnen ist die Nähe Gottes ein Trost«, sagte er leise. »Sie mögen ihn lange vergessen haben … jetzt suchen sie ihn. Auch das ist ein Phänomen, Doktor, und doch so natürlich wie nichts anderes: In der höchsten Not ruft man nach zwei Dingen – nach der Mutter und nach Gott.«
Dr. Körner drückte den Kragen gegen das Gesicht. Über die Gleise pfiff der Wind und trieb Eiskristalle wie Nadeln in sein Gesicht.
»Meine Mutter verlor ich, als ich sechs Jahre alt war«, sagte er gegen den Wind, aber Pfarrer Webern verstand ihn gut. »Ich kannte sie kaum. Und Gott lernte ich kennen … aber ich verlor ihn auch. Jetzt sagen Sie mir, Herr Pfarrer, wo Himmel und Hölle sind und woran ich Gott erkennen kann! Sie können es nicht in einem Satz sagen … und das ist schlecht. Gott muß man mit einem Wort erklären können …«
Er wandte sich ab und ging, sich gegen den heulenden Wind stemmend, vorbei an den russischen Waggons auf den Gleisen von Gumrak, dem Bahnhof der zehntausend Verwundeten.
Pfarrer Webern schwieg. Mit beiden Händen umklammerte er das kleine Kreuz, das ihm vor der Brust hing und mit verharschtem Schnee überkrustet war.
»Gott segne Sie, Doktor«, sagte er leise. Aber der Wind riß ihm die Worte vom Mund und zerfetzte sie mit Heulen.
5
Am 1. Dezember schleppte sich ein junger Soldat durch die tobende Nacht. Er drückte sich gegen den Schneesturm, keuchend, mit weit aufgerissenem Mund, irren Augen und stampfenden, aber immer wieder einknickenden Beinen. Ab und zu fiel er in den Schnee und blieb so liegen, wie er hingefallen war … auf dem Rücken, mit dem Gesicht nach unten, auf der Seite. So lag er dann ein paar Minuten, schneite zu, wurde ein kleiner Hügel in der flachen Steppe, bis er sich wieder auf die Knie stemmte, sich an zwei dicken Knüppeln hochzog und weitertaumelte.
Er lief nur des Nachts … am Tage verkroch er sich in ausgebrannte Scheunen, wühlte sich unter schwarzes Gebälk oder versteckte sich in Panzerruinen oder Überbleibseln von Lastwagen, die am Wegrand standen, verstreut über die Steppe, und die niemand kontrollierte. Dann schlief er einen betäubungsähnlichen Schlaf und sammelte Kraft für die wenigen Kilometer, die er in der Nacht, seitlich der befahrenen Straßen und Wege, wanderte. Seit drei Tagen war er unterwegs, und sein Ziel war Gumrak, der Flugplatz, das große Armeelazarett.
Sanitätsfeldwebel Wallritz hatte sich in einer Ecke des OP-Zeltes eingerichtet. Er schlief auf einer Trage, auf die er Stroh geschüttet hatte. Viel Zeit zum Schlafen gab es ohnehin nicht,
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