Das Herz der 6. Armee
… sie werden standrechtlich erschossen … zur Abschreckung für die Truppe … vor allem die Deserteure, die man eingefangen hat … »Das ist doch nicht wahr, Sigbart«, sagte Wallritz leise.
»Doch, Horst. Ich bin einfach weg. Drei Tage bin ich schon unterwegs. Bis ich hierherkam. Hier hat mich keiner gefragt … und ich habe fünf Stunden gebraucht, bis ich dich fand …«
»Ja, bist du denn verrückt?« stotterte Wallritz entsetzt. »Du weißt doch, was passiert, wenn sie dich erwischen …«
»Sie werden mich nicht bekommen, Horst. Du wirst mir helfen. Du allein kannst mir helfen …« Es war wie ein Schrei. Wallritz legte die Hand auf den aufgerissenen Mund seines Bruders. Er drehte den Handscheinwerfer aus. Im Schein der blakenden Notleuchte sah er in die flimmernden Augen Sigbarts.
»Wie stellst du dir das vor? Ich kann dich doch nicht bis Kriegsende verstecken! Mein Gott … was machen wir bloß … wie konntest du nur solch ein Idiot sein und desertieren?«
Sigbart Wallritz stützte sich auf die Ellenbogen. Er weinte wieder und lehnte den Kopf an die Brust seines älteren Bruders. »Greif mal in die Tasche, Horst«, schluchzte er. »Innen, in die Rocktasche, oben links … Mutter hat geschrieben …« Er drückte das Gesicht in die Uniform Wallritz' und brüllte in den Stoff. »Sie haben Vater abgeholt … in ein KZ … Er hat Luxemburg gehört und gesagt, daß wir den Krieg verlieren …«
Feldwebel Wallritz zog mit zitternden Fingern den zerknitterten, schmutzigen Brief seiner Mutter aus der Tasche Sigbarts. Man sah dem Brief an, daß er oft gelesen worden war und daß sich verzweifelte Finger in das Papier gekrallt hatten …
»… gestern haben sie Vater abgeholt. Zwei Männer von der SS. Er ist wortlos mitgegangen, was sollte er auch noch sagen? Er hat gestanden, was er getan und gesagt hatte. Dann war ich ein paar Stunden später bei der Gestapo und habe gefragt, was nun aus Vater würde. ›Er kommt in ein Lager‹, haben sie mir gesagt. ›Dort wird er geschult und bekommt einen Begriff vom Nationalsozialismus. So ein alter SPD-Mann wie Ihr Mann kann sich eben noch nicht an die neue Zeit gewöhnen. Wir hätten ihn viel früher umschulen sollen. Aber dafür geht es jetzt um so schneller …‹ Das haben sie mir gesagt, und ich habe Vater nicht wiedergesehen. Aber ich glaube, daß alles nicht so schlimm ist. Wir haben ja unsere Jungen, hat Vater mir zum Abschied gesagt, als ihn die beiden SS-Männer abführten …«
Sanitätsfeldwebel Wallritz ließ den Brief sinken. Sigbart sah ihn aus flatternden Augen an.
»Du kannst dir denken, was sie inzwischen mit Vater gemacht haben«, sagte er kaum hörbar.
Wallritz schwieg. Sein Kinn sank auf die Brust.
»Und warum bist du weg?« fragte er nach langem Schweigen.
»Ich muß nach Hause … ich muß zu Mutter …«
»Du bist verrückt, Sigbart. Von Stalingrad bis Berlin. Außerdem sind wir eingekesselt …«
»Du wirst mir helfen, Horst.« Sigbart Wallritz richtete sich hoch auf. Seine Stimme war nicht mehr weinerlich. Sie klang hart und anklagend. »Es ist deine Pflicht, mir zu helfen. Nicht als Bruder allein … es ist auch deine moralische Pflicht. Ich war nie ein Soldat oder ein Heilschreier … aber du warst es … Du warst erst Jungvolkführer, dann HJ-Führer, jeden Sonntag bist du losmarschiert, und Vater hat immer den Kopf geschüttelt und zu Mutter gesagt: Wann wird er aufwachen … hoffentlich wird es dann nicht zu spät sein … Du hast mich gezwungen, in die HJ einzutreten, weil du sagtest, es sei eine Blamage für dich, einen solch weichlichen Bruder zu haben … und ich bin mitmarschiert … Du hast mich überredet, mich freiwillig zum Militär zu melden, weißt du noch … bei deinem vorletzten Urlaub, als du gerade Feldwebel geworden warst … und das EK trugst du herum und ließest dich bewundern … Vater hat sich dagegen gewehrt, er hat dich sogar geschlagen, weißt du das noch … aber du sagtest immer: Wo ist denn mein Hosenmätzchen von Bruder? Wo ist denn der kleine Scheißer? Soll Mama dir die Brust geben? – Da habe ich mich freiwillig gemeldet, und dann bin ich hierhergekommen, nach Stalingrad, in die Stadt, in der Helden gebacken werden, wie mein Kompaniechef sagte. Das alles hast du auf dem Gewissen … das Leid von Mutter, den Tod von Vater, die Zerstörung meines Lebens …« Sigbart riß den Bruder an der Schulter zu sich herum und starrte ihm in das bleiche, zuckende Gesicht. »Und du willst keine moralische
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