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Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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niemand mehr auszusprechen wagte. Von dem Brief ging sein Blick zu Sigbart. Er lag auf dem Rücken, die Fäuste gegen die Brust gepreßt, und sein schmaler Mund zitterte vor wilder Erregung. Er sah verhungert und zerschunden aus, dreckverschmiert und abgerissen. Wenn Mutter ihn so sehen könnte, würde sie nicht zögern, ihn wie einen kleinen, gefallenen Jungen in die Arme zu nehmen und zu waschen und zu trösten. Er war ja immer noch ›der Kleine‹, der schmächtige, etwas verträumte, in sich blickende Sigbart, der nie Gefallen gefunden hatte an Zeltlagern und Aufmärschen, Fanfarenkorps und Parteitagen, Heimabenden und Morgenfeiern. Während Horst Wallritz marschierte und von den zitternden morschen Knochen sang, saß Sigbart am Fenster und las Gustav Freytags ›Soll und Haben‹.
    Und jetzt lag er auf einer mit Stroh aufgefüllten Trage, in einem Zelt des Flugplatzes Gumrak, von russischen Divisionen eingeschlossen, zum Sterben verurteilt … entweder durch ein Geschoß der Sowjets oder durch deutsche Exekutionskommandos. Erschossen wegen Feigheit vor dem Feind, wie es amtlich hieß.
    Feldwebel Wallritz schluckte krampfhaft. Die Ausweglosigkeit ergriff ihn wie mit Zangen und zerriß ihn fast. Er beugte sich über seinen Bruder und sah ihm in die unruhigen, flatternden Augen.
    »Wie hast du dir das alles gedacht, Sigbart?« fragte er leise. Er versuchte, seiner Stimme Festigkeit zu geben, aber sie schwankte doch hörbar.
    »Ich will raus, Horst. Nur raus aus dem Kessel. Ich weiß ja, du selbst kannst nicht … einmal, weil du für dein Heilschreien geradestehen mußt, wenn du Charakter hast … und zum anderen, weil du Sanitäter bist. Du mußt bei deinen Verwundeten bleiben. Aber ich? Welche Verpflichtung habe ich außer der, weiterzuleben für Mutter?«
    Er ergriff wieder die Hände Horsts und klammerte sich an ihnen fest. »Du mußt mir einen Platz in einem Flugzeug besorgen, Horst.«
    »Die Ausflugzettel hat Dr. Portner. Er allein stellt sie aus.«
    »Dann geh und organisiere einen.«
    »Das ist Diebstahl.«
    »Du stiehlst damit mein Leben zurück, Horst. Vielleicht auch das Leben von Mutter …«
    Feldwebel Wallritz senkte den Kopf tief auf die Brust. Er wußte, wo Dr. Portner die ›Lebensbillets‹ aufbewahrte. Er wußte auch, daß sie gebündelt unterschrieben waren, Blankoschecks für das Leben. Man mußte nur die Verwundungsart ausfüllen und das Datum, den Namen und das Geburtsdatum.
    Die Zettel lagen in einem kleinen eisernen Kasten im Verbandszelt in der hinteren Ecke, die Portner sarkastisch ›Lazarettbüro‹ nannte. Und es war der Sanitätsfeldwebel Wallritz, der jeden Tag die Zettel ausfüllte und sie den Verwundeten um den Hals hängte, um diese glücklichen, strahlenden Gesichter, in denen man las: Wir werden leben. Leben. Wenn auch nur mit einem Bein, einem Arm, einer zerfetzten Brust, einem durchlöcherten Magen, einer zerrissenen Lunge, einer abgerissenen Schädeldecke … Wir werden leben.
    Wallritz stand auf und befreite sich aus dem Griff seines Bruders, Sigbart stützte sich auf die Ellenbogen.
    »Wo willst du hin?« fragte er, plötzlich ängstlich.
    »Bleib liegen und verhalt dich still. Und wenn jemand kommen sollte, mach die Augen zu und stöhne etwas … dann glaubt jeder, du seist eine Neueinlieferung.« Er wischte sich über das Gesicht und spürte dabei, daß er trotz der Kälte, die auf der Zeltleinwand lag und gegen den blubbernden Eisenofen kämpfte, schweißnaß war. »Ich komme gleich wieder.«
    Er zog seinen Mantel an, schlug den Kragen hoch, band die Feldmütze mit einem Schal fest um den Kopf und verließ das Zelt.
    Durch die Nacht tobte wieder der Schneesturm von den Steppen Kasachstans. Der Wind heulte um die Holzhäuser und Zelte, Eisenbahnwaggons und Baracken und trieb die ungeheuren Schneemassen an den Wänden hoch zu Wällen. Der Flugbetrieb ruhte völlig, die Rollbahnen waren glattgefegte Eisflächen, über die der Schnee in weißen Schwaden wirbelte.
    Wallritz blieb einen Augenblick stehen, um sich an die Kälte zu gewöhnen. Der Schweiß auf seinem Gesicht gefror sofort zu kleinen, stechenden Kristallen, die er mit ein paar Handbewegungen abzustreifen versuchte. Dann senkte er den Kopf, stemmte sich gegen den Schneesturm und rannte und stolperte zu dem großen Verbandszelt, das im Schutze von zwei alten Kesselwagen aufgebaut war und dadurch nicht unmittelbar im Wind stand.
    Durch die Leinwand schimmerte noch ein schwaches Licht. Feldwebel Wallritz blieb stehen

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