Das Herz der 6. Armee
eine Wolke gelblichen Rauches hinab und hinter ihr kamen Geröll und erstickender Staub.
Kaljonin warf sich mit dem Gesicht nach unten in das stinkende Wasser auf dem Kellerboden. Er hielt den Atem an, solange es ging … dann hob er den Kopf etwas, machte einen neuen Zug, schluckte Rauch und Staub und drückte das Gesicht wieder in das Wasser. Das machte er mehrmals, bis sich die Luft etwas gereinigt hatte und die Wolke unter der Decke entlangglitt wie ein gelber Schleier. Da setzte er sich auf, lehnte den Rücken an die nasse Wand, tauchte ein Taschentuch in das Wasser und preßte es gegen den Mund. Durch diesen Filter konnte er atmen, ohne husten zu müssen.
Er sah sich um. Die Kellertreppe war verschlossen mit dicken Steinen und Mauerresten. Bis oben hin mußte sie vollgestopft sein, denn nichts rollte mehr nach. Durch ein paar Ritzen zog der Rauch langsam ab, aber an der Trägheit erkannte Kaljonin, daß über ihm ein ganzes Haus liegen mußte, das kaum Luft in den Keller ließ.
Er war verschüttet, und Kaljonin wußte, was das bedeutete. Er stemmte sich an der glitschigen Wand hoch und spürte, daß seine Rippen und sein Rücken von dem Sturz schmerzten und sein Nacken anzuschwellen begann und die Bewegung des Kopfes einengte.
Langsam ging Kaljonin die Wand entlang bis zur Ecke, dann die andere Wand … die Ecke … die dritte Wand … die Ecke … die vierte Wand … Es war ein großer viereckiger Keller, massiv gebaut und zum Teil mit Flußsteinen aus der Wolga gebaut. Ein guter, ein vorzüglicher Keller, der Jahrhunderte überleben konnte.
Wieder ging Kaljonin von Wand zu Wand, seine Stiefel platschten durch das Wasser. Er schritt sein Grab ab …
6
Mit der neunzehnten Ju 52, die drei Tage später vom vereisten Flugfeld von Gumrak abhob und nach Morosowskaja außerhalb des Kessels flog, kam auch der Funker Sigbart Wallritz mit.
Nachdem er seinen Zettel um den Hals trug und in der Masse der Wartenden herumhockte, fragte ihn niemand mehr, woher er kam. Ein Stabsarzt kontrollierte nur vor jedem Flug die ›Lebensbillets‹ und wählte aus den darauf verzeichneten Verwundungen diejenigen Fälle aus, die er als besonders dringend ansah. Zuerst kamen die liegend Transportfähigen an die Reihe, die Schwerverletzten, die Amputierten, Bauchschüsse, Rückenmarkverletzten, Lungenschüsse … dann wurden, um die Ecken auszufüllen, die Gehfähigen aussortiert. Hier ballte sich eine Masse zusammen, die bald zu einem Problem werden sollte. Noch war sie voller Hoffnung, auch wenn die letzte Zählung 12.000 Verwundete ergab, die in und um Gumrak herum lagen und warteten.
Zwischen Dr. Körner und Feldwebel Wallritz war kein Wort mehr über den Vorfall gewechselt worden … erst, als Sigbart ausgeflogen war, sagte Wallritz in einer Operationspause leise:
»Er ist weg …«
»Und was macht er jenseits des Kessels?«
Wallritz hob die Schultern. Es war eine Frage, die niemand beantworten konnte. Zwischen Morosowskaja und Berlin lagen einige tausend Kilometer Rußland und Polen, und wer nüchtern dachte, mußte sich sagen, daß ein heimlicher Weg vom Don bis zur Spree die Hoffnung eines Irren war.
Sigbart Wallritz dachte daran nicht. Er hockte neben der Trage, auf der ein Blindgeschossener lag, und das Schütteln und Schwanken des Flugzeuges war ihm wie ein tänzerisches Schweben. Auch als sie über die russischen Linien flogen, die den Kessel von Stalingrad umklammerten, und von sowjetischer Flak unter Feuer genommen wurden, kam in ihm keine Angst mehr auf oder der Gedanke, daß er noch immer über dem Tod schwebte. Er war völlig sicher, von jetzt ab das Leben gewonnen zu haben und betrachtete das Explodieren der Flakgranaten wie einen Abschiedsgruß der Hölle.
Ein Unteroffizier der Luftwaffe erschien an der eisernen Tür zur Flugzeugführerkabine.
»Herhören«, brüllte er durch den Motorenlärm. »Alle Gehfähigen melden sich in Morosowskaja im Auffanglager des Standortlazaretts. Es liegt am Ende des Flugplatzes. Die Sankas sind nur für die Liegenden.«
Sigbart Wallritz lächelte vor sich hin. Erst einmal landen, dachte er. Dann sehen wir weiter.
Donnernd rauschte die klobige Ju 52 unter dem Winterhimmel dahin. Die Wolken hingen tief, schwer von Schnee. Bis Morosowskaja waren es noch zwanzig Minuten.
Am linken Motor, fast unmittelbar unter der Drehschraube des Propellers, befand sich ein kleines Loch. Noch sah es keiner, aber aus diesem Loch tropfte Benzin, und dann waren es ein paar Funken, die
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