Das Herz der 6. Armee
zurückzuerobern. Der Tag hatte mit einem wilden Granatwerferfeuer begonnen, sogar zwei deutsche Panzer hatten eingegriffen und waren über die halbwegs befahrbaren breiten Straßen gekrochen. Von irgendwoher schossen drei leichte Geschütze, und Major Kubowski schrie: »Freiwillige vor, Genossen. Wir müssen herausfinden, wo diese Hundesöhne sich versteckt halten. Die pflügen unsere Stellungen um wie einen Rübenacker. Wer versucht's?«
Iwan Iwanowitsch Kaljonin hatte sich gemeldet, und mit ihm noch einige andere Rotarmisten. Im Wirbel eines Schneewindes waren sie losgerannt, Zickzack auf die deutschen Stellungen zu, von Ruine zu Ruine springend, jeden größeren Stein als Deckung nutzend, über die Straße kriechend wie schnelle Eidechsen, in Granattrichtern wartend und sichernd, durch zerstörte Keller schleichend oder von Haus zu Haus springend, nicht unten auf der Straße, sondern oben, im zweiten Stockwerk, katzenhaft, sich an Balken anklammernd, an herumhängenden Leitungen sich wegschwingend, Trapezkünstlern gleich, um sich federnd im halbierten Zimmer des nächsten Hauses hinzuwerfen und weiterzukriechen, erdbraune Schatten in einer weißen Mondlandschaft, aus der es ab und zu feurig aufbrüllte und Hauswände in sich zusammenfielen.
So waren sie weitergekommen, tapfere, todesverachtende Kerle aus Moskau und Irkutsk, Weißrussen und Kalmücken, Tataren und Usbeken, Männer vom Ladogasee und krummbeinige Reiter aus Ulan Bator. Mitten hinein in die deutschen Stellungen krochen und sprangen sie, und dann saßen sie im Keller eines großen Hauses, über sich mehrere Meter Schutt, und wußten, daß dreißig Meter weiter im Hof einer kleinen Konservenfabrik die drei deutschen Geschütze standen.
Kaljonin hielt eine kurze Besprechung, wie man das immer tut, ehe man etwas Außergewöhnliches vollbringt. Zwei Dinge konnte man tun … zurückkehren zu den eigenen Leuten und melden, woher die Deutschen den Tod in die sowjetischen Reihen schleuderten, oder versuchen, diese Geschütze zum Schweigen zu bringen.
»Das ist am besten, Genossen«, sagte Kaljonin. »Wir sind nun einmal hier, und ob die Artilleristen genau diesen Fabrikhof treffen, das ist noch eine Frage. Laßt uns überlegen, wie man das am besten machen kann.«
Sie überlegten nicht lange. Sie banden Handgranaten zu Bündeln zusammen und verstärkten sie mit kleinen Päckchen Sprengladungen. Ja, sie setzten sich sogar hin, jeder in eine Ecke, und reinigten noch einmal ihre Maschinenpistolen, damit sie keine Ladehemmungen hatten. Dann, nach einer Stunde, sah Kaljonin sich um und nickte.
»Gehen wir, Genossen«, sagte er ganz ruhig. Als erster kroch er voraus in die Ruinen, und obwohl jeder von ihnen wußte, daß mindestens einer fallen würde und jeder dieser eine sein konnte, zögerte keiner, sondern sie alle schlurften durch die zerplatzten und zermahlenen Steine, schoben sich unter Balken hindurch und zwängten sich durch Mauerritze.
Im Hof der Konservenfabrik feuerten wieder die drei deutschen Geschütze. Es waren neue Kanonen, mit Spreizlafetten, wie Kaljonin feststellte, als er durch ein Loch der Hofmauer spähte und direkt in die qualmenden Mündungen starrte. An einem Küchentisch saß zwischen den Geschützen ganz gemütlich ein Offizier, ein junges, schlankes Kerlchen, und hatte eine Karte vor sich ausgebreitet und einen Schußwinkelberechner. Anhand der Karte rechnete er die Ziele aus, gab die Werte durch, die Zielkanoniere kurbelten die Schußwinkel ein, und dann donnerte es wieder und spie den Tod in die sowjetischen Keller und besetzten Häuser.
»Wir dürfen nicht danebenwerfen, Genossen«, sagte Kaljonin. Er sprach laut, denn im Hof konnte ihn niemand hören. »Jeder nimmt sich ein Geschütz, und weil wir sechs sind, kommen zwei auf jede Kanone.«
Sie nickten, legten ihre geballten Ladungen zurecht und warteten. Der junge deutsche Offizier rief wieder ein paar Zahlen, die Rohre schwenkten etwas zur Seite und in die Höhe, Granaten und Kartuschen wurden eingeschoben … »Im gleichen Augenblick, wenn sie feuern«, sagte Kaljonin ganz ruhig. »Dann gucken sie zur Seite … und werft die Dinger neben die Rohre …«
Die Richtkanoniere hoben die Hand. Der junge Offizier streckte den Zeigefinger in die Luft, als sei er ein warnender Lehrer. Kaljonin hielt den Atem an. Er starrte den jungen Mann an. Es ist schade um dich, Freundchen, dachte er in diesem kurzen Augenblick. Du und ich, wir haben noch so viel vor im Leben. Aber es ist
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