Das Herz der 6. Armee
ihm war leer, der Verwundete, der auf ihr gelegen hatte, war in eine Ecke gerollt. Seine Fußspitzen schlugen gegen die Wand, während er grell schrie. Mit ein paar Tritten hatte Wallritz das Segeltuch abgerissen; als die Maschine aufprallte und sich überschlug, klammerte sich Wallritz an zwei Haltegriffen fest und überlebte den Salto wie an Ringen pendelnd. Dann kroch er zur Tür, zielte auf die verklemmte Verriegelung und rammte die Tragenholme gegen das Blech. Ein paarmal prallte er ab, beim fünften Anlauf brach die Tür auf und schlug nach außen um. Heulend fegte die Kälte in den Laderaum, mit ihr aber auch der Geruch von Brand, Öl und glühendem Metall.
»Sie ist auf!« brüllte jemand, und der Schrei pflanzte sich fort. »Auf – auf – auf – Jungs, nur raus – raus!«
Eine graue, schreiende Woge wälzte sich auf die kleine Luke zu. Wallritz sprang. Er flog ein paar Meter durch eisige Luft, schlug dann in den Schnee, überkugelte sich mehrmals und blieb dann auf dem Bauch liegen. Er sah, wie aus dem Türloch sich stoßende, um sich schlagende Leiber quollen … sie stürzten die vier Meter Höhenunterschied zwischen Tür und Boden kopfüber hinab, und die wenigen, die diese Gefahr erkannten, wurden einfach hinausgestoßen. Der junge Leutnant erschien in der Tür, man hörte ihn brüllen, aber keiner verstand ihn. Auch er wurde von einigen Fäusten einfach aus dem Flugzeug gestoßen und fiel in den Schnee, wo er starr liegenblieb. Er schien sich das Genick gebrochen zu haben.
Sigbart Wallritz sprang auf. Noch einmal sah er zurück zu dem brennenden Flugzeug und dem dunklen Knäuel wimmernder, schreiender, um sich schlagender Menschen, dann rannte er fort, dem nahen Waldrand entgegen.
»He!« schrie ihm eine grelle Stimme nach. »Kamerad! Nimm mich mit … nimm mich mit … Ich kann doch noch laufen … ich kann doch laufen …«
Wallritz rannte, nach vorn geduckt, gegen den Wind gestemmt. Er erreichte den Wald, lehnte sich ächzend gegen den ersten Baumstamm und drückte den Mund an die vereiste Rinde. In diesem Augenblick explodierte der Benzintank des Flugzeuges. Der Druck der Detonation warf Wallritz um den Stamm herum in den Schnee, es war ihm, als platze sein Schädel auseinander. Wie ein Tier wühlte er sich in den Schnee, schloß die Augen und blieb bewegungslos liegen. Erst nach einigen Minuten, in denen keine weitere Explosion mehr erfolgte, richtete er sich auf den Knien auf und starrte hinüber zu dem Flugzeug. Es war zerrissen. Die brennenden Trümmer lagen verstreut im Schnee, und durch das Zischen hörte er die grellen Schreie der Schwerverwundeten, die auf ihren Bahren lagen und verbrannten, übergossen von Benzin und Öl, bedeckt von glühenden Blechfetzen.
Ich lebe, dachte Wallritz. Ich lebe wirklich! Das war so unbegreiflich, daß er zunächst aufstand, sich an einen Baum lehnte und schweratmend in den grauen Himmel starrte. Dann lief er fort, hinein in den verfilzten Wald, richtungslos, ohne Orientierung. Nur weg, dachte er, nur weiter … weiter … Wo er sich befand, war ihm gleichgültig. Er wußte nur eins, und das gab ihm Kraft: Er war aus dem Kessel heraus. Er hatte Stalingrad überlebt. Er war frei … frei! Was jetzt noch kommen konnte, war erträglich gegen die Hölle, der er entronnen war.
Ich werde leben, sagte er sich immer wieder, während er lief. Ich lebe … ich lebe … Er verlor jeglichen Zeitbegriff, ruhte ein paarmal aus und sah am Himmel, daß der Abend kam. Da blieb er stehen und knöpfte den Brotbeutel ab. Er enthielt alles zum Überleben. Eine Feldflasche mit heißem Tee, ein Säckchen Hartkeks, zwei Dosen Schmalzfleisch, ein Feuerzeug, fünfzig Schuß Pistolenmunition. Was will man mehr?
Als die Nacht hereinbrach, saß er in einer Mulde und bemühte sich, nasse Äste zum Brennen zu bringen. Als es nicht gelang, nahm er den letzten Brief seiner Mutter aus der Rocktasche, steckte ihn an und bekam so den Anfang eines kleinen Feuers, das er sorgsam hütete und größer und größer werden ließ bis zur wärmenden Flamme. Er hockte sich davor, lehnte den Kopf gegen einen Baum und wußte nicht, daß er vor Erschöpfung einschlief. Einmal war es ihm, als höre er Stimmen, als falle etwas auf seinen Kopf, er versuchte sich aufzurichten, die Augen aufzureißen, aber sein Kopf war wie mit Blei gefüllt, er fiel nach vorn auf die Brust, und die Besinnungslosigkeit des Schlafes kam wieder über ihn.
Er erwachte, weil ihn jemand rüttelte. Mit einem Sprung wollte
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