Das Herz der 6. Armee
er aufschnellen, aber ein Fußtritt warf ihn zurück. Er sah, daß er auf einer alten Zeltplane lag, aber es war keine deutsche, gefleckte Plane, sondern erdbraunes Segeltuch. Das nackte Entsetzen riß seinen Kopf herum.
Um ihn herum saßen oder standen fast zwanzig dunkle Gestalten. Wilde, unrasierte Gesichter unter tief heruntergezogenen Fellmützen, wie sie die Jäger in der Taiga tragen. Mäntel aus Filz. Pelzstiefel. Vor der Brust Maschinenpistolen.
Wallritz stützte sich auf den Ellenbogen hoch. Zum erstenmal sah er Partisanen. Angst durchjagte ihn. Er kannte die Gnadenlosigkeit des Partisanenkampfes aus vielen Erzählungen der Kameraden, und er erkannte in den Blicken der ihn Umstehenden sein Schicksal. Flehend hob er die Hände, und plötzlich begann er zu weinen, schluchzend wie ein Kind. Er ließ sich zurückfallen auf die erdbraune Zeltplane und schlug die Hände vor das Gesicht. Ein Fußtritt in die Seite rollte ihn von der Plane in den Schnee; er kniete, neigte den Kopf nach vorn, biß sich in den Handrücken und schrie dann mit überschlagender Stimme: »Schießt doch! Schießt …!«
»Aufstehen!« sagte eine dunkle Stimme in gutem Deutsch. »Steh auf …«
Sigbart Wallritz erhob sich langsam. Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Der Mann, der zu ihm gesprochen hatte, stand neben ihm. Ein vom Bart verfilztes Gesicht, in dem zwei dunkle Augen brannten.
»Sie … Sie sprechen deutsch«, sagte Wallritz. Es war mehr ein Stöhnen als ein gesprochener Satz.
»Du von der Maschine …« Der Partisan zeigte in eine Himmelsrichtung. Wallritz nickte.
»Aus Stalingrad?«
»Ja.«
»Kameraden alle tot.« Der Kopf Wallritz' fiel nach vorn. »Du allein leben … Nicht verwundet?«
»Nein. Ich … ich …« Der Kopf Wallritz' schnellte in wilder Verzweiflung herum. »Ich bin ein Deserteur!« schrie er. »Ich will nicht mehr! Ich will nicht! Ich hasse den Krieg! Ich will leben! Leben! Ich bin kein Held – ich will nichts, als diesen Wahnsinn hier überleben! Versteht ihr mich: Ich hasse den Krieg! Ich hasse ihn!«
Dann fiel er zusammen. Er hatte seine letzte Kraft in diesem Schrei verbraucht. Eine große Gleichgültigkeit überkam ihn. Er wartete darauf, erschossen zu werden, und es war ihm plötzlich alles so gleichgültig. Er streckte sich im Schnee aus, breitete die Arme von sich und bot sich dar wie ein Schlachtopfer.
»Komm mit!« sagte die dunkle Stimme über ihm. »Steh auf und komm mit, Nikolai Feodorowitsch soll entscheiden. Steh endlich auf …«
Und wieder taumelte Wallritz durch den Wald. Er wurde sogar gestützt, als ihn die Kräfte verließen. Und er begriff das Wunder nicht, daß er noch lebte.
Gefreiter Hans Schmidtke, genannt Knösel, war von Gumrak nach Stalingrad-Stadt geschickt worden. Mit drei Sankas fuhr er los, um aus den vorgeschobenen Verbandplätzen, wie man die überfüllten Sanitätskeller nannte, die Schwerverwundeten abzuholen und in das Feldlazarett Gumrak zu transportieren. Ein Feldwebel leitete den Transport. Knösel fuhr den Sanka Nr. 3.
Westlich des ›Tennisschlägers‹, jener hart umkämpften Eisenbahnschleife mitten in Stalingrad, die noch immer im Besitz der Sowjets war und die Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski so heldenhaft verteidigte, erzählte man ihm von dem russischen Stoßtruppunternehmen, das einer ganzen Batterie das Leben gekostet habe. Nur vier Verwundete lagen noch in einem Keller der Fabrik und warteten auf den Abtransport. Man hatte sie nicht zur Sammelstelle bringen können, weil die Straßen ständig unter Artillerie- und Granatwerferfeuer lagen. Drei Sanitäter waren in dieser Feuerglocke schon zerfetzt worden.
Der Feldwebel aus Gumrak kratzte sich den Kopf und hob die Schultern. »Das sind vier Mann, Jungs … und vierhundert waren hier! Da kann man nichts machen. Vielleicht beim nächstenmal … wenn wir dann noch durchkommen! Die Scheiße dampft nämlich gewaltig!«
Außer den vier Verwundeten im Fabrikkeller aber hatte Knösel noch eine andere Nachricht erhalten, die ihm weit wichtiger erschien. Die Artillerie-Batterie, die der sowjetische Stoßtrupp vernichtet hatte, war eine bespannte Batterie gewesen. Bespannt heißt aber, daß da, wo die Protzen standen, auch Pferde sein mußten. Pferde wiederum waren Fleisch, und Fleisch war etwas, was man in Gumrak nur einmal in der Woche kannte und dann nur als Bröckchen in einer wasserhellen Suppe.
Während die drei Sankas im Schutze eines Trümmerberges auf die Nacht warteten, um
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