Das Herz der 6. Armee
das er mit Schnee auslegte; dann hackte er Eiszapfen von den zerborstenen Dächern und Wänden, grub quadratische Schneewürfel aus, machte aus Holzstückchen ein kleines Feuer, schmolz in einem verbeulten Kessel Schnee zu Wasser, übergoß damit die Würfel und fabrizierte so Eisbrocken. Dann erst begab er sich in die Lagerhalle und fand das schreiende Pferd in einer halb vom Schnee zugewehten Ecke. Es lag auf den Knien und scheuerte den Kopf an der vereisten Betonwand. Als es den Menschen sah, schwieg es und schaute ihn aus großen, starren Augen an. Knösel holte die 08 aus der Tasche und schob mit dem Daumen den Sicherungsflügel herum.
»Es ist gleich vorbei, mein Liebling«, sagte er und nickte dem Pferd zu. »Es ist schon eine Bande, diese Menschen …«
Der Schuß hallte in der leeren Halle wider. Knösel ging in Deckung und wartete. Aber niemand kam. Nur von draußen hämmerten noch die MGs. Was bedeutete da ein einzelner Schuß irgendwo in den Trümmern?
Über zwei Stunden arbeitete Knösel. Er schwitzte, hatte sich den Mantel und die Jacke ausgezogen und schleppte Stück um Stück des Pferdes in seinen Eisschrank. Er schichtete das Fleisch lagenweise aufeinander, schaufelte zwischen jede Lage eine Schicht Eis, umpackte dann alles mit Eisbrocken, schippte Schnee darüber und klopfte ihn mit dem Spaten glatt. Eine kleine Pyramide wuchs an der Mauer hoch, in deren Innerem keiner über einen Zentner frisches Fleisch vermutete.
»So«, sagte Knösel, als er fertig war, und warf den Spaten weg. »Jetzt drei Tage harter Frost, und wir haben das beste Kühlhaus.«
Ungefähr dreißig Pfund Fleisch – eine ausgetrennte Hüfte – packte er in einen Sack und warf ihn über die Schulter. So kroch er aus der Fabrik und keuchte den Weg zurück zur Sammelstelle der Verwundeten.
Nach etwa zweihundert Metern machte er Rast, warf den Sack von sich und legte sich ächzend und außer Atem auf eine halb zugeschüttete Kellertreppe. Über ihm pendelten einige Leuchtkugeln. Sie galten jetzt ihm … die sowjetischen Posten hatten die Bewegung in den Trümmern bemerkt.
Sonst war es merkwürdig still in der Geisterstadt. Nur die lautlosen Leuchtkugeln an kleinen Fallschirmen verbreiteten ein phosphoreszierendes Licht. Knösel drückte sich gegen die Stufen. Sie liegen auf der Lauer, dachte er. Irgendwo dort in den Trümmern liegen sie und warten, daß ich herauskomme. Scharfschützen aus Sibirien und Turkmenien, die Augen an die Zielfernrohre gepreßt. Es gab nur eine Möglichkeit, weiterzukommen … die wenigen Augenblicke zwischen dem Verlöschen der Leuchtkugeln und dem Abschuß der neuen. Es waren nur ein paar Sprünge, aber mit ihnen konnte man ins Leben springen.
Knösel lag still und wartete, starrte nach oben und dachte an seinen Eisschrank. In diese Stille hinein hörte er plötzlich Klopfen. Rhythmisch, schwach, Stein auf Stein gehauen … tack-tack-tack … tack-tack … tack-tack-tack-tack … Pause … tack-tack …
Steil setzte sich Knösel auf und lauschte. Das Geräusch war verstummt. Aber als er sich wieder schutzsuchend auf die Kellerstufen legte, hörte er es wieder. Tack-tack-tack …
»Verdammt!« sagte Knösel laut. »Da unten im Keller sind welche! Himmel, Arsch und Zwirn!«
Er nahm einen Stein und klopfte auf die Stufen. Deutlich kam Antwort … auf dreimaliges schnelles Klopfen erfolgte die ebenso schnelle Bestätigung. Knösel rutschte die Treppe hinab, bis er vor den verschütteten Eingang kam. Ein Teil der Kellerdecke war eingebrochen und hatte sich vor die Kellertür gelegt. Noch einmal hieb Knösel mit einem dicken Stein gegen das Geröll, und wieder vernahm er die Antwort jenseits der Wand.
Fast hilflos stand Knösel dem Geröll gegenüber. Träger, Beton, Mauerreste, Balken, Schutt, und darunter in einem Keller Menschen, lebendig begraben.
Es gab keine Wahl, er mußte den Schutt mit seinen Händen wegräumen. Hilfe zu holen, war unmöglich. Neue Leuchtkugeln pendelten über ihm; ab und zu jagte ein Feuerstoß über das Gelände, eine freundliche Mahnung, nicht den Kopf hochzuheben.
Wieder klopfte es, im Inneren des Kellers polterte es. Aha, dachte Knösel, jetzt räumen sie auch mit. Er zog seinen Mantel aus und warf ihn hinaus zum Kellereinstieg. Kaum flatterte der Mantel durch die Luft, bellten ringsherum die Gewehre auf und rissen Löcher in den Stoff.
»Die schießen wie die Teufel!« sagte Knösel laut. Mehr zu denken hatte er keine Zeit. Daß er in einer Falle saß, wußte er.
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