Das Herz der 6. Armee
Oh, der kommt nicht wieder. Weine nur, kleines Frauchen Veranja … Iwan Iwanowitsch war ein Held. Und sie wird bei ihrem Großväterchen sitzen, dem etwas einfältigen Greis Abranow, und sie wird sagen: Warum mußte Iwan Iwanowitsch ein Held sein und nicht der Vater meiner Kinder? Und weinen wird sie, die kleine Veraschka. Ganz rote Augen wird sie haben, wie ein Siamkätzchen.
Kaljonin seufzte tief. Knösel sah ihn von der Seite an. »Ich würd' ja sagen: Hau ab … wenn ich wüßte, wie ich hier rauskomme!«
Kaljonin verstand ihn nicht. Er seufzte noch ein paarmal bei dem Gedanken an Vera, dann schlief er ein. Sein Kopf sank gegen die Schulter Knösels; wenig später schnarchte er sogar. Erst als der Abend dämmerte, wachte er auf und weckte Knösel, der neben ihm lag.
Mit einem Ruck setzte sich Knösel auf und griff zur Pistole. Sie war noch da, und als er Kaljonin ansah, schüttelte dieser den Kopf.
»Du … mein Freund«, sagte der Russe. »Kein Krieg zwischen uns … Läb wohlll …«
»Du willst abhauen?«
»Läb wohll«, sagte Kaljonin noch einmal. Er hatte sein Taschentuch an ein Stück Holz gebunden und hob diese kleine Fahne nun aus dem Kellereingang hinaus. »Lauf, Kamerad …«
»Sie werden mich wie einen Hasen umknallen.«
»Nix schießen! Lauf.«
Irgendwo bellten ein paar Schüsse auf. Knösel riß Kaljonin zurück. »Mensch, wenn dich unsere Spähtrupps sehen!«
»Du gähen hier an Straße entlang …« Kaljonin zeigte durch die Trümmer.
»Und du?«
»Ich dorthin.« Er zeigte in die Richtung ›Tennisschläger‹, wo die Trümmer wieder durcheinandergewirbelt wurden.
»Willst du nicht mitkommen, Iwan?«
»Nein. Wir Siegär! Aber du? Mitkommen?«
Knösel schüttelte den Kopf. »Nein, Iwan.«
»Warum nicht? Krieg für Deutschland kaputt …«
»Vielleicht.« Knösel zog seinen Mantel an und warf den Sack mit dem Pferdefleisch über den Rücken. »Das ist so komisch mit uns, Iwan … wir machen weiter, auch wenn's in die Hosen geht! Jetzt frag bloß nicht, warum! Ich weiß es auch nicht … vielleicht haben wir 'ne Schraube weniger im Gehirn?! Mach's noch gut, Kumpel Ruski …«
»Viel Glück!« Kaljonin hob wieder seine kleine weiße Fahne hoch. Dann schob er sich aus der Deckung und ging aufrecht durch die Trümmer auf die russischen Scharfschützen zu. Dabei schwenkte er sein Taschentuch an der Dachlatte und rief laute Worte.
Unter seinem Schutz kroch Knösel zurück zu den deutschen Kellerstellungen. Nur einmal wurde er beschossen, aber die beiden Treffer schlugen in das Pferdefleisch ein und blieben dort stecken. Fast hundert Meter aber mußte er schutzlos rennen und robben, dann erreichte er einen Laufgraben und fiel neben einem MG-Stand kopfüber in die deutsche Stellung.
Die drei MG-Wachen halfen Knösel auf die Beine und taten dann etwas, was Knösel das Gefühl gab, zu Hause zu sein. Sie schrien ihn an: »Du Vollidiot! Du Dünnscheißer!«, traten ihn mehrmals in den Hintern und schlugen ihm auf den Stahlhelm. »Latscht der Kerl da quickvergnügt durch die Schußlinie!« brüllte ein Feldwebel. »Im letzten Moment sehen wir, daß das ein deutscher Idiot ist! Sie melden sich sofort beim Kompaniechef. Dort hinten, wo das Brett hängt! Los, Mann … Sie faule Pflaume!«
Knösel schwieg. Er rannte durch den Laufgraben davon, vorbei am Kompaniebunker, durch Quergräben und verlassene Kriechmulden, um Häuser herum und über Straßen, bis er aufrecht gehen konnte und die ersten qualmenden Schornsteine der Trosse, Werkstätten, Feldküchen und Stäbe sah. Er näherte sich dem Rand der Stadt, dem Gewirr der zerschossenen Straßenbahnen, Lastwagen und Panzerruinen, zwischen denen die technischen Truppen sich eingerichtet hatten, unter ihnen auch die Bäckerkompanie, die seit zwei Tagen begonnen hatte, Brot unter zwanzigprozentiger Beimischung von Sägemehl zu backen.
Während Knösel zwei Pfund Fleisch gegen drei noch heiße Brote tauschte, schrieb in seinem Lazarettzelt in Gumrak Stabsarzt Dr. Portner seine Tagesmeldung.
›Einlieferungen: 472 Mann. Todesfälle: 294 Mann.
Ausgeflogen: 47 Mann.
Aus der Lazarettbelegschaft: 1 Mann bei Verwundetentransport aus Stalingrad nach Gumrak vermißt.
Name: Hans Schmidtke, Gefreiter, geb. 14.9.1917. Stammrollen-Nummer …‹
»Ich habe das Gefühl, er lebt, Herr Stabsarzt«, sagte Dr. Körner, als er die Meldung Portners durchlas. Der Stabsarzt schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie, Knösel geht aus Vergnügen in den Trümmern spazieren
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