Das Herz der 6. Armee
heftig gegen den Kopf, als fahre ein spitziger Gegenstand unter seine Hirnschale. Ehe er etwas sagen konnte, ehe sein großes Verwundern sich ausdehnen konnte, wurde die Welt dunkel. Der Greis Abranow fiel nach vorn vor den Mauerrest, auf dem der kleine Tunguse lag und vor Freude heulte.
»Yei! Yei! Yei!« schrie er, verlor das Gleichgewicht und fiel von der Mauer auf seinen erschossenen Dämon. Er spürte den Aufprall, aber er fühlte nicht mehr den Schmerz, als sich die Därme aus seiner Bauchhöhle ergossen. Er war vor Schreck gestorben, als er dem Dämon aufs Gesicht fiel, einem schrecklichen Gesicht, furchtbarer als alle Bilder, die er von Geistern kannte.
So starb der Greis Pawel Nikolajewitsch Abranow, in einem Augenblick, als er dreißig Meter von seiner Enkelin Vera Kaljonina entfernt war, denn auch sie kroch durch die Trümmer und suchte nach verwundeten Rotarmisten.
Ist das nicht ein sinnloser Tod, so darf man doch wohl fragen?! Und noch sinnloser wird er, wenn man weiß, daß keiner jemals wieder etwas von Großväterchen Abranow gefunden hat. Nach einer Stunde Stille hämmerte die Artillerie wieder in die Trümmer, wühlte die Erde um und grub den Alten im Geröll ein, aber einzeln, in Teilen, zerfetzt und zerrissen.
Es ist keine Übertreibung, zu sagen: Es gab keinen Pawel Nikolajewitsch Abranow mehr.
Die Stadt hatte ihn wie tausend andere gefressen.
In der Nacht zum 18. Dezember 1942 erhielt das Feldlazarett III den Befehl, die Zelte in Gumrak abzubauen und wieder in die Stadt zurückzukehren. Von allen Seiten wurde der Kessel um Stalingrad – 63 km lang und 38 km breit – eingedrückt. Sowjetische Panzer tauchten plötzlich in Dörfern mitten im Kessel auf, walzten alles nieder und verschwanden wie Schemen im Schneenebel. Eine feste Verteidigungslinie war unmöglich geworden. Durch die breiten Lücken zwischen den einzelnen Divisionen und Regimentern sickerten russische Truppen ein und vernichteten im Kleinkampf die ausgemergelten, übermüdeten, erschöpften, hungernden und frierenden Kompanien.
Alle Ausbruchsversuche waren vom Führerhauptquartier verboten worden. Sie wären jetzt auch sinnlos gewesen, denn die nächsten deutschen Divisionen außerhalb des Kessels standen erst am Tschir, bei Werchne-Tschirskaja oder tief im Süden bei Potjomkinskaja. Um sie zu erreichen und die Front der Umklammerung zu durchstoßen, fehlte es an Benzin, Munition, Verpflegung, Kraft, Mut, Fahrzeugen, eben an allem. Es gab nur noch eins: Warten auf ein Wunder. Warten auf den Tod. Warten auf etwas, was man nicht aussprechen kann, weil es Gott beleidigen würde.
Generalarzt Professor Dr. Abendroth hatte die Chefs der Feldlazarette nach Pitomnik bestellt. Hier war die Lage ebenfalls verzweifelt, weil hier fast dreißigtausend Verwundete lagen, die auf einen Ausflug hofften, verpflegt werden mußten, und von denen jeder wußte, daß sie einmal elend in Schnee und Eis krepieren würden, wenn das erhoffte Wunder nicht eintrat und sie nicht von deutschen Flugzeugen abgeholt würden.
»Lieber Portner«, sagte Professor Dr. Abendroth zu seinem ehemaligen Schüler, »sehen Sie mich nicht so strafend an. Ich habe den Krieg nicht gewollt, und geführt habe ich ihn noch viel weniger! Wenn sie wüßten, wieviel Notschreie ich täglich zur Heeresgruppe funke, Schreie um Flugzeuge, um Medikamente, Verbandmaterial, Instrumente, Verpflegung … und wie schrecklich das Echo ist … ›Wir tun, was wir können … wir tun, was wir können …‹, und es kommt nichts! Gar nichts! Ein paar Kisten vielleicht … ein Viertelmeter Binden für jeden Verwundeten, wenn wir es aufteilten!«
Er beugte sich über einen Plan der Stadt und legte den Finger auf eine Stelle, an der im Straßengewirr ein kleines rotes Kreuz gezeichnet war.
»Hier, Portner. Hier war einmal ein Lazarettkeller. Unter einem Kino.«
»Ich kenne die Gegend, Herr Generalarzt.« Dr. Portner beugte sich auch über die Karte. »Sechshundert Meter weiter südlich hatte ich meine Sammelstelle.«
»Dort sollen Sie wieder hin, Portner.«
»Wann?«
»Sofort. Man gruppiert um. Statt nach Westen geht es wieder nach Osten. Hinein in die Stadt. Man rechnet mit einem großen Druck aus dem Donbogen und von Beketowka im Süden her. In dieser Zange will man uns zerquetschen. Deshalb soll in der Stadt selbst für alle Fälle eine Verteidigungsfront aufgebaut werden, ein Bunkersystem. Jeder Keller ein Heldennest, Portner! Man ist dabei, der 6. Armee die Gräber
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