Das Herz der 6. Armee
oder sucht seinen dämlichen Elefanten? Ich habe Feldwebel Baltus eingehend verhört: Knösel hat sich heimlich entfernt und ist seitdem verschollen! Wenn es nicht Knösel wäre, würde ich sogar schreiben: Verdacht des Überlaufens zum Gegner …«
»Ich habe ein merkwürdiges Gefühl, Herr Stabsarzt.«
Dr. Portner sah seinen Assistenzarzt groß an. »Hunger haben Sie, Körner. Und vielleicht im Inneren so etwas wie das Gefühl der Ausweglosigkeit. Im Volksmund nennt man es ›Das arme Tier‹. Das haben wir alle, Körner.« Er faltete die Meldung zusammen und reichte sie Dr. Körner über den Tisch. »Lassen Sie das nachher mit dem nächsten Schub der Ausflieg-Verwundeten zum Divisionsarzt bringen.«
Dr. Körner nickte. Er verließ das OP-Zelt und stapfte durch den Schnee zu seinem Verbandszelt. Dort arbeiteten Horst Wallritz und sechs Sanitäter und wechselten die Verbände der Gehfähigen. In langer Schlange standen sie vor dem Zelt in der eisigen Luft. Ein Feldwebel der Feldgendarmerie ›regelte den Verkehr‹. Er hieß Emil Rottmann und hatte sich bei Dr. Portner gemeldet mit dem Hinweis, daß er abgestellt sei, für die äußere Ordnung des Feldlazaretts III zu sorgen.
Niemand fragte ihn, woher der Befehl dazu gekommen sei. Es wurden in diesen Tagen so viele sinnlose Befehle gegeben und auch ausgeführt, daß es auf einen unsinnigen mehr oder weniger nicht ankam. Dr. Portner hatte nur genickt und geantwortet: »Na denn … richten Sie von mir aus Einbahnstraßen zwischen den Zelten ein. Nur wenn Sie uns behindern, gibt's Krach!«
Emil Rottmann hielt sich streng daran. Er hatte gar nicht die Absicht, zu behindern. Er wollte nur in der Nähe von Wallritz und Dr. Körner sein, in der Nähe des ›Lebensbillets‹, das er von ihnen erwartete, wenn es an der Zeit war.
Es ist traurig, daß die besten Menschen meistens einen sinnlosen Tod sterben. Puschkin fiel im Duell, Balzac soll sich überfressen haben, und ein nordischer König starb am Herzschlag in den Armen eines Freudenmädchens. Nicht, daß Pawel Nikolajewitsch Abranow, der Greis am Steilufer der Wolga, mit diesen Größen vergleichbar wäre … aber immerhin war er in seiner Einfältigkeit ein braver Mann, ein lieber Großvater und eine Seele von Mensch. Man muß das zugeben, ohne alle Gehässigkeit. Er war ein treuer Sowjetbürger, ein alter Kommunist, ein gläubiger Mensch und Ehrenmitglied des Betriebsrates von ›Roter Oktober‹. Er hatte Stalin einmal die Hand gedrückt, zwar aus Zufall, weil Stalin in dem Gewühl der ausgestreckten Hände gerade die von Abranow ergriffen hatte, und er hatte sogar mit Lenin ein paar Worte gesprochen. Genaugenommen waren es sieben Worte auf die Frage Lenins, ob sie alle glücklich seien: »Ja, so ist es, Genosse Wladimir Iljitsch!« Aber es waren die sieben goldenen Worte im Leben Abranows.
Dieser redliche Mann endete so sinnlos, wie man es sich nur denken kann. Es begann damit, daß Kaljonin vermißt wurde und seine Frau Vera Kaljonina einfach in die Kampflinie ging, in das Lazarett des Chirurgen Andreij Wassilijewitsch Sukow, und zu der Ärztin Olga Pannarewskaja sagte: »Genossin Oberleutnant … man braucht uns hier! Lassen Sie mich mithelfen am großen Sieg!«
Das alles geschah heimlich, während der Greis Abranow mit offenem Mund in seinem Bunker am Steilufer der Wolga schnarchte und von einer fetten Gemüsesuppe träumte. Am Morgen darauf rannte er von Bunker zu Bunker, bis hinunter zur Fähre, die unter Beschuß lag, und überall schrie er: »Habt ihr meine Vera nicht gesehen? Ihr wißt doch! Vera Kaljonina, das Bräutchen von Stalingrad! Oh, ihr dummen Hunde! Ihr Eselsköpfe! Sie ist weg! Einfach weg! Wer hat sie denn gesehen? Sagt es doch! Sagt es!«
Die einen schoben den lamentierenden Alten weiter, andere lachten ihn aus – so roh waren sie, die Burschen! – und andere wieder sagten: »Ja, sie ist eben hier vorbeigekommen, wollte sich ihren Popo waschen in der Wolga und mit Eis abreiben«, und trieben einen traurigen Scherz mit dem jammernden Abranow. Schließlich erfuhr er von einem Zug Verwundeter, daß eine neue Sanitäterin im Lazarett am ›Tennisschläger‹ angekommen sei. Vera heiße sie, ein mutiges Mädchen.
Da hielt es den alten Abranow nicht mehr am Steilufer der Wolga. Er zog einen Schaffellmantel an, stülpte eine große Karakulschafmütze über den Schädel, nahm einen dicken Knüppel, um sich darauf zu stützen, und schulterte einen Sack mit Lebensmitteln und Kartoffeln. So
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