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Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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seziert.
    So wie man aus einem alten Auto einen Motor ausbaut, die Bremsen, das Gestänge, das Getriebe, so wurde der Körper des toten Grubenelektrikers aus Essen, Vater von vier Kindern, die noch gar nicht wußten, daß ihr Papi für Großdeutschland gefallen war, und die glaubten, er säße jetzt vor Stalingrad in einem warmen, sicheren Bunker und knabbere an den süßen Weihnachtsplätzchen, die sie ihm geschickt hatten, von dem Pathologen in routinierter Reihenfolge ausgeschlachtet.
    Herz, Lunge, Leber, Eingeweide, Galle, Magen, Nieren, Darm, Blase … die Einzelteile eines Menschen häuften sich neben dem Körper auf einem Wachstuch. Dicker Tabakrauch zog träge über den Seziertisch und durch den heißen Bunker. Die Luft wurde stickig, süßlich, moderig, beklemmend. Eine Luft, die sich wie Fett auf die Haut setzte, klebrig wie Zuckerwasser.
    Der Pathologe aus Berlin sah auf und dehnte sich. Der Seziertisch war etwas niedrig, man mußte mit gekrümmtem Rücken arbeiten, das ermüdete sehr. Die Marmortische in der Charité waren bequemer.
    »Sehen Sie es, meine Herren?« fragte er und tippte mit einem scharfen Löffel auf die Innereien. Mit dem scharfen Löffel hatte er gerade aus den großen Röhrenknochen ein kleines Häufchen Knochenmark herausgekratzt. »Ich glaube, für uns ist der Tod jetzt kein Geheimnis mehr. Ich vermute, daß die Heeresleitung staunen wird und daß man im Führerhauptquartier sich darüber einige Gedanken machen muß. Fassen wir zusammen: Um die inneren Organe, unter der Haut, überall, wo es sein soll, ist kaum noch ein Fettgewebe vorhanden. Alle Organe sind von einer merkwürdigen Blässe, im Gekröse sehen wir eine wässerig-sulzige Masse, die Leber ist gestaut. Und dann das Herz … klein und braun, wie zusammengeschrumpft, dagegen ist die rechte Herzkammer unnatürlich stark erweitert, ebenso der rechte Vorhof.« Der Pathologe tippte mit einem Spatel auf das Häufchen Knochenmark, das er gerade abgestreift hatte. »Sehen Sie sich das an, meine Herren … statt roten und gelben Knochenmarkes habe ich eine glasige Gallertmasse herausgeholt. Fassen wir alles zusammen, ist die Diagnose ganz klar: Jod durch Überdehnung der rechten Herzkammer, Grund: Völlige Unterernährung, Wärmeverlust, Erschöpfung höchsten Grades.« Der Pathologe sah in die betroffenen Gesichter der Ärzte. Der Sektionsbefund war klar … es gab da kein Herumdeuteln mehr. »Das war die Todesursache dieses Toten … sehen wir uns die anderen an. Wieviel Leichen haben wir im Augenblick hier?«
    »Neun«, sagte der Oberstarzt heiser.
    »Machen wir weiter, meine Herren!« Der Pathologe fing einen Blick Dr. Körners auf. Einen fragenden, einen wissenden Blick. Er zögerte einen Augenblick und wandte sich dann dem Oberstarzt zu.
    »Sie werden nachher einen Vortrag über die Todesursache vor den Herren Generälen halten?«
    »Ja.«
    »Dann erklären Sie bitte in aller Deutlichkeit: Auch in Friedenszeiten starben viele alte Leute an einer Überdehnung der rechten Herzkammer. Auch sie fielen plötzlich um. Es war der Greisentod … Wenn hier in Stalingrad junge Leute an dem gleichen Herztod sterben, so darum, weil ihre Körper den unmenschlichen Strapazen nicht mehr gewachsen sind, weil sie die Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann, überschritten haben, weil sie verbraucht sind, oder – sagen Sie es klar – weil sie vor Stalingrad Greise geworden sind …«
    »Das Herz der 6. Armee …«, sagte Dr. Körner leise.
    Alle Köpfe flogen zu ihm herum. So leise er es gesagt hatte, in die plötzliche Stille hinein war es wie eine Explosion.
    »Mein Gott …« Der Oberstarzt wischte sich über das schweißnasse Gesicht. »Ich darf nicht daran denken, wie es weitergehen soll …«
    Während die anderen acht Leichen seziert wurden, war Emil Rottmann nicht untätig gewesen. Er hatte sich erkundigt, wie die ›Scheiße dampfte‹. Bei den Lkw-Fahrern, bei Munitionskolonnen, bei den Werkstätten, beim Troß, beim Wetterdienst der Luftwaffe. Er sah die Armee der Verwundeten, die in Waggons, Zelten und Holzhütten auf dem Bahnhof Gumrak darauf warteten, abtransportiert zu werden, er hörte von den verzweifelten Kämpfen um einen Platz in den Ju 52, die hinaus in das Leben flogen, er sah die Elendsschar der Verwundeten, die ihr ›Lebensbillet‹ um den Hals trugen und doch am Flugfeld von Gumrak verreckten, weil sie keiner mitnehmen konnte.
    »Wenn die uns nicht bis zum zehnten Januar rausholen oder mehr zu fressen bringen,

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