Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
mit einem Schlag hellwach. Ein akkurat aus einer Zeitungsseite ausgeschnittenes Rechteck, aus dem Standaard vom November 1881, in den sechs Monaten seither zu sprödem Pergament abgegriffen und immer wieder sorgsam geglättet, die Druckerschwärze speckig geworden und in das Papier hineingerieben, sodass die Lettern ausgefranst und ein wenig unscharf wirkten. Ihr Talisman. Ihr Schlüssel zu einem neuen Leben.
Gut situierte Offiziersfamilie in Batavia sucht kultivierte junge Dame zwischen zwanzig und dreißig in Dauerstellung als Lehrerin und Gouvernante für Junge und Mädchen, fünf und zwei Jahre alt. Anforderungen: gepflegtes Holländisch; Französisch, Deutsch und Englisch fließend. Musikkenntnisse wünschenswert. Großzügige Entlohnung und Übernahme der Reisekosten geboten sowie freie Kost und Logis. Bewerberinnen ohne Erzieherinnenzertifikate bevorzugt.
Floortje widmete sich den Zeilen länger als nötig und betrachtete währenddessen unter halb gesenkten Lidern Jacobina. Wie sie ihr in der tadellosen Haltung einer Dame gegenübersaß, die Füße am Boden eng beisammen, die Beine unter dem schmalen Rock eine elegante Diagonale bildend und den Oberkörper kerzengerade, erinnerte sie Floortje einmal mehr an die Heldinnen der Romane, die sie früher heimlich verschlungen hatte. Sie hatte etwas von einer Einsiedlerin, umweht von einem Hauch Tragik und mit einer Ahnung von Tiefgründigkeit, die ihr unscheinbares Äußeres Lügen strafte. Als hütete sie ein dunkles Geheimnis. Eine verwundete Seele.
Gespenstischer Nebel, der das Gerippe eines kahlen Baumes umwaberte, eine sturmumtoste Klippe über dem kochenden Meer oder die Silhouette eines düsteren Herrenhauses hätten einen passenden Rahmen für dieses Fräulein van der Beek geboten – aber eine Überfahrt nach Java, um dort eine Stellung als Gouvernante anzutreten, fand Floortje mindestens ebenso romantisch. Ebenso aufregend.
»Klingt gut«, sagte sie und gab Jacobina den Zeitungsausschnitt zurück. Beiderseits ihrer Nasenwurzel tauchten kleine Kniffe auf. »Mich wundert nur, dass sie so gar keinen Wert auf Zeugnisse legen.«
»Das ist in dieser Art von Inseraten häufig zu lesen«, erwiderte Jacobina, während sie das ihr so kostbare Stück Papier wieder sorgsam zwischen die Buchseiten legte. »Frau de Jong hat es mir in einem ihrer Briefe erklärt. Sie wünscht sich, dass ihren Kindern nicht einfach festgelegter Lernstoff eingebläut wird, sondern dass sie ganz selbstverständlich mit den Sprachen aufwachsen und nebenbei mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut gemacht werden.«
»Ach so.« Floortje zog die Beine unter sich und zupfte an den Rüschen ihrer Rocksäume. »Warst du in deiner bisherigen Stellung nicht zufrieden, oder lockt dich die Ferne?«
Auf Jacobinas Wangen zeichnete sich eine feine Röte ab. »Das … das ist meine erste Anstellung.« Ihr Mund presste sich zusammen, als machte sie sich bereit, im nächsten Moment zuzuschnappen.
»Oh.« Floortjes Wimpern flatterten auf und ab. »Dann musst du ja mächtig Eindruck gemacht haben, dass sie dich so ganz ohne Empfehlungsschreiben um die halbe Welt kommen lassen!«
Jacobinas Augen wanderten über die Reling hinweg in das leuchtende Blau des Sommerhimmels über dem Atlantik. Einmal mehr waren es nicht ihre Fähigkeiten gewesen, die ihr diese Tür geöffnet hatten, sondern allein der Name van der Beek. Ein Kunde ihres Vaters, der Geschäftsbeziehungen nach Ostindien unterhielt, kannte dort jemanden, der seinerseits die de Jongs kannte und sich ihnen gegenüber lobend über den Charakter, den Lebenswandel, die Umgangsformen und vor allem den familiären Hintergrund des Fräuleins van der Beek äußerte. Julius und Bertha van der Beek wiederum konnten sich auf diesem Wege absichern, ihre Tochter in einem anständigen Haus, bei honorigen und finanziell gut gestellten Bürgern Batavias aufgehoben zu wissen.
Ihr Blick senkte sich wieder auf das Buch. Behutsam klappte sie es zu und legte es in den Schoß. Womöglich war sie einer Täuschung erlegen, der gleichermaßen behütenden wie erdrückenden Hand ihrer Eltern und ihres Bruders entkommen zu können, wenn sie so weit fortging wie nur möglich. Ihre Finger umklammerten den Buchrücken, so wie sie sich an der Hoffnung festhielt, es würde von nun an keine Rolle mehr spielen, welchen Namen sie trug oder gar wie sie aussah. Nur noch, was sie tat und sagte und was zu leisten sie im Stande war.
»Was führt dich denn nach Batavia?«
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