Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
gereift. Dabei musste sie in ungefähr demselben Alter sein wie Jacobinas jüngerer Bruder Martin, achtzehn vielleicht oder neunzehn, keinesfalls älter. Jünger, als Jacobina selbst es jemals gewesen war; sie konnte sich nicht daran erinnern, irgendwann einmal derart leichtherzig und forsch durchs Leben gegangen zu sein.
»Und deine Familie hat dich einfach so gehen lassen?«
Floortje rührte sich nicht. Ihr Gesicht fühlte sich kühl und glatt an, wie eine Maske, die jederzeit zerspringen konnte. Sie dachte an die Dokumente in ihrem Koffer, die es ihr ermöglichten, so zu handeln, als wäre sie bereits mündig. An das Bündel Geldscheine daneben und die Fahrkarte nach Batavia. Und daran, was sie getan hatte, um all das zu bekommen. Was doch nichts anderes als ihr gutes Recht gewesen war. Um den Riss hinter sich zu lassen, der durch ihr Leben ging und einen Teil von ihr ins Dunkel geschleudert hatte. An all die Tränen, die hässlichen Dinge und Worte. Den Schmerz, die Scham und die Schuld. Als sie die Stimme zu einem Flüstern anhob, kamen die Laute nicht weich und geschmeidig aus ihrem Mund, sondern trocken und spröde.
»Ich habe keine Familie mehr.«
Mit wildem Indianergeheul, das alle an Deck aufschreckte, stürmte der kleine Joost Verbrugge heran, stürzte sich auf seine Schwester und ihre Freundin und entriss ihnen eine der Puppen am Skalp. Frau Verbrugge ließ ihre Handarbeit fallen und erwischte ihren Sohn gerade noch am Hemdsärmel. Unter der lauten Schelte, der schallenden Backpfeife, dem Gebrüll des Jungen und den tränenreichen Schluchzern der beiden Mädchen ging das Läuten der Glocke beinahe unter, die die Passagiere zum Gabelfrühstück rief.
Floortje schlug die Augen auf, wandte den Kopf und lächelte Jacobina an. »Ich sterbe vor Hunger!«
3
»Schau mal, da! Und da!« Floortje konnte kaum stillstehen. Mehr noch als die kleinen Ter Steeges und Verbrugges, die sich mit aufgerissenen Augen an die Reling pressten und unter begeisterten Lauten mit den Fingerchen hierhin und dorthin zeigten und von ihren Eltern Erklärungen einforderten, versprühte sie mit jedem Ausruf, jedem kleinen Hüpfer flirrende Begeisterung. »Da drüben – siehst du das? Ist das nicht wunder-wunderschön?!«
Jacobina nickte nur; sie vermochte sich nicht an der Herrlichkeit sattzusehen, die sich vor ihr ausbreitete und ihr keinen Raum für Worte ließ.
Hatte am Vortag schon der Hafen von Genua mit seiner belebten Mole und den bunt zusammengewürfelten, eng stehenden Häuschen in Ocker, Umbra und Terrakotta unter krummen Ziegeldächern einen reizvollen Anblick geboten, besaß die Aussicht auf Neapel einen ganz besonderen Charme. Cremehell, primelgelb, karminrot und rosenholzfarben dehnten sich die palazzi mit ihren ebenmäßigen Fensterreihen im Stadtbild aus; Fassaden von schlichter südländischer Eleganz, der schleichender Verfall keinen Abbruch tat, sondern vielmehr einen betörend morbiden Zauber verlieh. Von allen Seiten drängten sich schmale Häuser heran, zwischen denen sich enge Gassen hindurchwanden, und auf den Dächern und Kuppeln der Kirchen glänzte die Sonne. Eine Festungsanlage, ein Teil gelblich grau vor Alter, der andere adrett und blendend weiß, wachte von einem locker bewachsenen Hügel aus über die Stadt. Auch am Hafen behielten gleich zwei Kastelle mit stämmigen Wehrtürmen, verwittert und von der Zeit gezeichnet, aber unverändert trutzig, das Kommen und Gehen in der Bucht im Blick. Und selbst wenn sie nicht hinsah, konnte Jacobina die Farbe des Wassers fühlen; ein Blau, so strahlend und durchdringend, dass es die Luft in Schwingung versetzte und auf der Haut kribbelte.
In einem langgezogenen Laut des Entzückens ließ Floortje den Atem ausströmen, als sich ein gutes Dutzend kleiner Fischerboote von der Mole löste, das Wasser durchpflügte und auf den Rumpf des Dampfers zuhielt. Braungebrannte, schwarzhaarige Männer in losen Hemden und Kniehosen, dunkel gelockte Frauen in bauschigen Rüschenblusen und Schürzen über ihren bunten Röcken hielten schwere Rispen praller Trauben empor und Körbe mit Aprikosen und Pfirsichen, die Härchen der samtigen Haut silbrig schimmernd. Golden leuchteten Orangen und Mandarinen neben dem saftigen Rot aufgeschnittener Wassermelonen und dem zarten Lachsrosa und Blassgrün der Zuckermelonen. Das laute, lockende »Frutti! Frutti freschi! Frutti!« mischte sich mit dem »Fiori! Fiori belli! Fiori!« der Händler, die einladend Blumensträuße über ihren
Weitere Kostenlose Bücher