Das Herz der Hoelle
hab dich nicht darum gebeten, im Internet zu recherchieren. Komm endlich in die Gänge, Mann!«
»Aber …«
»Erinnerst du dich an Unital6? Der Verein, an den Luc E-Mails geschickt hat. Check ab, ob es keine Verbindung zu Bienfaisance gibt.«
»In Ordnung. Ist das alles?«
»Nein. Da ist noch etwas, worum ich dich bitten möchte, etwas Komplizierteres.«
»Du baust mich echt auf.«
Ich resümierte die Geschichte von Thomas Longhini. Im Januar 1989, im Alter von vierzehn Jahren, der fahrlässigen Tötung bezichtigt. Richter de Witt eröffnet ein Ermittlungsverfahren und lässt ihn festnehmen, verhört von der Kripo Besançon, dann freigelassen. Ich erwähnte den Namenswechsel und die Tatsache, dass es keinerlei Spuren gab.
»Verzwickt!«
»Foucault, ich wiederhole mich nicht. Du arbeitest nicht bei der Telekom. Lass dir von anderen helfen. Und find endlich was!«
Foucault brummte eine Antwort und fragte dann höflich:
»Und du? Wie geht’s? Kommst du voran?«
»Nein«, grummelte ich, »mir geht’s nicht gut. Aber das zeigt, dass meine Richtung stimmt.«
Ich legte auf und ließ den Motor an. Die Tannenwälder, die kahlen Hügel, die tiefhängenden Wolken begannen sich zu bewegen. Dünne Schneeflocken flogen wie Puder durch die Luft. Ich nahm die Umgehungsstraße und fuhr an den farbenfrohen Siedlungen am Stadtrand von Sartuis entlang.
Mir fielen weiß verputzte Gebäude mit bordeauxroten Fensterläden auf. Die Siedlung Les Corolles, wo Manon verschwunden war, an einem Abend im November 1988. Ich fuhr nicht langsamer, aber durch die Scheiben spürte ich die Kälte, die Einsamkeit dieser Gebäude, deren Silhouetten im frühen winterlichen Dämmerlicht verschwammen.
Nach einem Kilometer tauchten unterhalb der Straße, versteckt zwischen Lärchen, Betonbunker auf. Ich bremste ab und erkannte offene Kanäle, gekrümmte Rohrleitungen und rechteckige Wasserbecken.
Die Kläranlage.
Der Tatort.
Ich hielt Ausschau nach einer Nische, in der ich das Auto abstellen konnte. Ich steckte die Taschenlampe und meine Digitalkamera ein und ging los. Es gab keinen Fußweg. Die Felsen, die über das Farnkraut aufragten, leuchteten in einem unheilvollen Rot und waren gesprenkelt von grünlichem Moos. Ich tauchte in das Gestrüpp ein.
Am Fuß des Hangs wucherten Gräser, Efeuranken und Brombeerhecken zu einem fast undurchdringlichen Dickicht. Unter den Tannen folgte ich den Rohrleitungen. Der Harzduft wurde kräftiger. Jedes Mal, wenn ich einen Zweig beiseitedrückte, entluden sich grüne Funken vor meinen Augen. Schneeflocken wirbelten durch die Luft, klar, ungreifbar.
Ich stieß auf einen ersten Brunnen, dann auf einen zweiten. Ich hatte mir immer Ringe aus Beton vorgestellt. Tatsächlich waren es tiefe rechtwinklige Wasserschächte. Welcher war zu Manons Grab geworden? Ich folgte den Rohren weiter. Der Wind hatte nachgelassen. Ein Ausdruck aus der Seemannssprache kam mir in den Sinn: Flaute.
Ich empfand nichts. Weder Angst noch Widerwillen. Nur das Gefühl, dass das Vergangene vorüber war. Der Tatort hatte keine Ausstrahlung mehr, anders als andere Tatorte, wo man geradezu angeregt wird, in der Fantasie den Mord nachzuvollziehen, wo man eine Schockwelle spürt. Ich beugte mich über einen der Sickerschächte. Ich bemühte mich, mir Manon vorzustellen, ihre Haare, die auf der schwarzen Oberfläche trieben, ihre wassergetränkte rosa Daunenjacke. Ich sah nichts. Es war 14.30 Uhr. Ich machte pro forma ein paar Fotos, kehrte dann um und ging auf den Hang zu.
In diesem Moment hörte ich ein Lachen.
Ein Bild blitzt auf, in der Nähe eines Brunnens. Hände, die nach dem rosa Anorak greifen. Das Lachen wird lauter. Das ist keine blitzartige Vision, sondern eher eine dumpfe Offenbarung, die einen dazu zwingt, die Augen zusammenzukneifen und die Ohren zu spitzen. Ich konzentriere mich und lauere auf ein neues Bild. Nichts. Ich will schon weitergehen, als mich unvermittelt ein weiterer Blitz überfällt. Hände, die den Anorak stoßen. Flüchtiges Aufleuchten. Das Reiben von Acrylgewebe auf dem Stein. Der vom Abgrund verschluckte Schrei.
Ich fiel in die Brombeersträucher. Der Ort hatte sein Grauen nicht verloren. Der Mord hatte seinen Abdruck hinterlassen. Es handelte sich nicht um ein übersinnliches Phänomen, sondern um die Fähigkeit der Einbildungskraft, sich in die Signatur einer
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