Das Herz der Hoelle
gelangt.«
»Wie erklärt sich das?«
»Kinder besitzen einen sogenannten ›Diving-Reflex‹. Denken Sie an schwimmende Säuglinge. Wenn man sie untertaucht, schließt sich unwillkürlich ihr Kehlkopfdeckel, sodass kein Wasser in ihre Atemwege eindringen kann. In dem Brunnen trennte sich Manon von der äußeren Umgebung und funktionierte sozusagen als ein geschlossener Regelkreis.«
Ich hatte eine bizarre Vision vom Körperinnern Manons. Die roten und schwarzen Organe, die in einem sehr schwachen und langsamen Rhythmus schlugen und in dem eisigen Wasser das letzte Quäntchen Leben erhielten. Beltreïn rückte seine Brille zurecht.
»Es gibt Theorien über diesen Reflex. Manche sind der Ansicht, dass es sich um ein archaisches Überbleibsel handelt, das mit unserer stammesgeschichtlichen Herkunft aus dem Wasser zusammenhängt. Wenn ein Delfin oder ein Wal untertaucht, unterbricht ein angeborener Reflex augenblicklich seine Atmung und sorgt für eine verstärkte Durchblutung der lebenswichtigen Organe. Genau das ist bei Manon geschehen. Unter Wasser verwandelte sie sich in einen kleinen Delfin. Sie hat sozusagen im Grund ihres Wesens Zuflucht gesucht. In diesem Zusammenhang von einem urzeitlichen Gedächtnis zu sprechen …«
Beltreïn verstummte abermals und ließ seine Worte nachhallen. Das Wunder dieses Überlebens war noch spektakulärer, als er dachte. Ein angeblich besessenes kleines Mädchen, das von seiner Mutter ermordet wurde, überlebte dank seines Delfin-Gedächtnisses …
»In dieser Phase«, fuhr er fort, »müssen Sie einen wesentlichen Punkt verstehen: Es gab keinen Kampf.«
»Sie meinen zwischen Manon und ihrem Mörder?«
»Nein, zwischen Manon und dem Tod. Sie hat nicht gekämpft. Die Kälte hat sie überfallen und gelähmt. Nur deshalb hat sie überlebt. Die geringste Anstrengung hätte ihren Tod durch Ertrinken beschleunigt. In gewisser Weise hatte sich das kleine Mädchen mit dem Tod abgefunden. Das ist eines der Geheimnisse meiner Forschungen. Wenn man sich mit dem Nichts abfindet, wenn man sich ihm hingibt, kann man in einer Art … Zwischenwelt in der Schwebe verharren, halb tot und zugleich halb lebendig sein.«
Ich dachte an diese entscheidende Zäsur im Leben des kleinen Mädchens. Was hatte Manon während dieser Phase, in der »die Zeit stillstand«, gesehen? Wirklich den Teufel? Einstweilen konzentrierte ich mich auf die physiologischen Aspekte ihrer Reise:
»Sie haben von drei Faktoren gesprochen.«
»Ich mag Polizisten«, sagte er lächelnd. »Sie sind aufmerksame Schüler.«
Er schnalzte mit der Zunge:
»Der dritte Faktor ist die vollständige Heilung von Manon. Es waren schwere Folgeschäden zu befürchten. Doch als Manon wieder aufwachte, war sie im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten. Keine Sprachprobleme. Keine Beeinträchtigung des Denkvermögens. Sie litt an einem relativen Gedächtnisschwund, doch ihr Gehirn funktionierte hervorragend.«
»Wie erklärt sich das?«
»Wieder mit ihrem Alter. Je jünger ein Gehirn ist, umso mehr Zellen besitzt es. Dies bedeutet, dass es seine Funktionen auf ein riesiges Gebiet verteilen kann. Natürlich wurde das Gehirn Manons geschädigt, aber andere, ungeschädigte Hirnregionen übernahmen automatisch die Funktionen der geschädigten Areale. Das nennt man neuronale Plastizität. Man kennt hirngeschädigte Kinder, bei denen eine Hirnhälfte die gesamte kognitive Aktivität übernommen hat.«
Dieser Hinweis auf eine Amnesie veranlasste mich zu einer rein kriminalistischen Frage:
»Hat sich Manon nach ihrem Aufwachen an den Tatort erinnert? Hat sie etwas über den Angreifer gesagt?«
Er tat diese Frage mit einer Geste ab:
»Ich habe sie nicht nach den Tatumständen gefragt. Das war Sache der Ermittler.«
»Haben sie die Kleine befragt?«
»Ja, aber sie erinnerte sich nicht mehr daran, was in der Kläranlage passiert war. Eine Blockade. Das ist recht häufig nach einem Koma. Es kann sich sogar um eine bewusst herbeigeführte Amnesie handeln. Das Gehirn macht sich gewissermaßen das Trauma zunutze, um einen Vorfall zu verschleiern, der ihm unangenehm ist.«
Manon hatte diese schreckliche Begebenheit aus ihrem Gedächtnis getilgt, aber ihre Mutter stand mit Sicherheit noch immer unter Schock. Sie sah in dieser Amnesie zweifellos eine zweite Chance für sich und ihre Zukunft. Wenn sich Manon an
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