Das Herz der Hoelle
die Wahrheit in Sicht ist. Ich wäre dort nicht von Nutzen.«
»Es interessiert dich also nicht, wer deine Mutter umgebracht hat?«
»Du kümmerst dich doch darum, oder?«
Je stimmiger sich ihre Antworten anhörten, umso verärgerter wurde ich. Sie lächelte noch immer. Ich fand sie hässlich. Zwei bittere Falten liefen quer über ihre Wangen und ließen sie härter, älter erscheinen.
»Du bist wirklich eine dumme kleine Studentin.«
»Charmant.«
»Du hast keine Ahnung, was wirklich los ist!«
»Dank dir. Du hast mir nicht einmal ein Viertel von dem erzählt, was du weißt.«
»Zu deinem Besten! Wir alle versuchen dich zu beschützen!« Ich schlug mir gegen die Stirn. »Hast du denn nur Flausen im Kopf?«
Sie lächelte nicht mehr. Ihre Wangen waren tiefrot geworden. Sie stand auf und machte den Mund auf, um mir in gleichem Tonfall zu antworten. Doch plötzlich besann sie sich anders und fragte mit sanfter Stimme:
»Du versuchst mich doch nicht gerade anzumachen?«
Die Frage verschlug mir die Sprache. Nach kurzem Schweigen lachte ich laut auf:
»Ich schlag mich doch ganz gut, oder?«
»Nicht schlecht.«
Krakau war mit seinen Farbtönen und Lichteffekten eine Welt für sich. Eine Welt, die genauso in sich geschlossen und unverwechselbar war wie die eines großen Malers. Die satten Farben Gauguins, die Clair-Obscurs Rembrandts … Eine Welt aus Erd-, Lehm- und Ziegelfarben, wo sich ein gefälliges Wechselspiel zwischen dem braunen Laub, den roten Dächern und den schmutzigen schwarzen Mauern entfaltete.
Manon hatte sich bei mir untergehakt. Wir gingen im Laufschritt, ohne zu sprechen. Auf dem Hauptmarkt verlangsamten wir unsere Schritte unter den Sukiennice, den im reinsten Renaissance-Stil erbauten Tuchhallen mit ihren gelben und roten Arkaden. Aufstiebende Tauben, kalte Windstöße. Eine Art knisternde Spannung, flammende Erregung schwebte in der Luft.
Verstohlen betrachtete ich das Profil Manons. Die anmutige, vollkommene Nase erinnerte mich aus einem unerfindlichen Grund an die Kindheit und auch ans Meer. Ein kleiner Kieselstein, der im Lauf von Jahrhunderten in der Brandung glatt geschliffen wurde. Und immer die staunend hochgezogenen Brauen, die die Welt zu befragen und sie mit Wahrheiten zu konfrontieren schienen. Die Wirklichkeit hatte schon zu viel gesagt oder nicht genug …
Wir beschleunigten wieder unsere Schritte. Den Sehenswürdigkeiten, die mir an den Vortagen aufgefallen waren, schenkte ich keinerlei Beachtung mehr. Wir gingen aufs Geratewohl durch Gassen, Straßen und Alleen. Man hätte uns hier jederzeit angreifen können – aber ich war nicht besorgt: Manon hatte das Kloster nur unter der Bedingung verlassen dürfen, dass uns ein oder mehrere Schutzengel in gehöriger Entfernung folgten. Ich hielt nicht Ausschau nach ihnen, aber ich wusste, dass sie da waren und uns behüteten. Römische Kragen über breiten Schultern.
Wir unterhielten uns jetzt genauso schnell, wie wir gingen. Wie um die verlorene Zeit aufzuholen, diese Tage, die wir ungenutzt hatte verstreichen lassen. Unsere Unruhe war vollkommen unnötig, denn die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Wir hatten den Eindruck, dass sich derselbe Augenblick immer stärker, immer dichter wiederholte. Wir waren an einem Extrempunkt angelangt. Die Erregung in uns nahm unaufhörlich zu, wurde immer stärker, ohne dass wir eine Art unbeschreibliche Glückslinie überschreiten konnten.
Manon bombardierte mich mit Fragen:
»Magst du Krimis?«
»Nein.«
»Wieso?«
»Die Wörter sind der Wirklichkeit niemals gewachsen.«
»Und Videospiele?«
Mein einziger Kontakt mit dieser Form der Unterhaltung war eine Sammlung gestohlener Computerspiele, die bei einem ermordeten Homosexuellen gefunden wurden. Als wir diese Spur verfolgten, gelangten wir schließlich zu seinem Komplizen, der zugleich sein Liebhaber und Mörder war. Ich erfand eine Antwort, die ich für witzig hielt:
»Rauchst du Joints?«
Auf alle Fragen von Manon versuchte ich amüsante, leichte, heitere Antworten zu geben. Ich gab mir Mühe, meinen natürlichen Ernst abzuschütteln. Aber ich wusste, dass meine Anstrengungen vergeblich waren. Unbekümmertheit lag mir nicht. Aber Manon war fröhlich für zwei, und dieser Spaziergang schien sie über meine Gegenwart und über all meine Worte hinaus zu
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