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Das Herz der Hoelle

Titel: Das Herz der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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erfreuen.
       Wir blieben auf dem Gipfel eines Hügels stehen, unweit des Wawel-Schlosses. Unter uns floss die Weichsel, ein grauer Fluss, der sich kaum zu bewegen schien. Man hatte das Gefühl, auf einen Schlag den Rohstoff zu sehen, aus dem die gesamte Stadt gegossen, ausgemeißelt und herausgetrieben worden war.
       Es wurde dunkel. Ein unheimlicher, beängstigender Moment in allen Städten, in dem sich der Schatten der Dunkelheit ausbreitet, ohne dass die Straßenbeleuchtung brennt. Die geheimnisvolle Stunde, in der die wahre Nacht ihre Rechte zurückfordert und Jahrhunderte der Zivilisation auslöscht.
       Oberhalb des Flusses versank die Stadt in der Finsternis. Die Gemäuer schimmerten in einem Blau, das allmählich zu Graublau wurde. Die Straßen und Gehsteige waren in Malventöne getaucht, während vereiste Stellen in den letzten Sonnenstrahlen schmutzigrosa aufleuchteten.
       »Gehen wir zurück?«, fragte Manon.
       Ich sah sie an, ohne zu antworten. Der Tag erlosch in ihren Augen, wodurch das Dämmerlicht noch fahler wirkte. Sie fröstelte in ihrer Parka, über die Wassertropfen perlten. Wir saßen auf einer Bank. Da ich mich nicht rührte, nahm sie mich bei der Hand wie ein kleines Mädchen, das vertraute Menschen zu sich zieht – sie seinem Willen unterwirft.
       »Komm.«
       Ich widersetzte mich.
       Ich dachte an Manon Simonis, die von ihrer Mutter ermordet worden war, weil sie vom Teufel besessen war. An das missbrauchte kleine Mädchen, das Tiere tötete und Obszönitäten von sich gab. An das tote Kind, das von Gott oder vom Teufel wieder zum Leben erweckt worden war. Meine Nachforschungen in Sartuis standen mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen. Ohne zu wissen, wie mir geschah, zog ich Manon auf einmal an mich und küsste sie voller Leidenschaft.

KAPITEL 89
    Goldbraune Taverne, Skai-Bänke, Kronleuchter aus Buntglas. Zigeuner spielten auf einer Bühne wie im Rausch Geige und Zimbal. Es war die einzige Zuflucht, die wir in den abendlichen Gassen gefunden hatten. Trotz des Lärms, des Rauchs und des Geruchs von Fett und Alkohol waren wir gut aufgelegt und fühlten uns so, als wären wir allein auf der Welt. Ein Tête-à-Tête, bei dem wir fast alles um uns herum vergaßen.
       Hinter jeder Äußerung spürte ich ein tiefes wechselseitiges Verstehen, eine beispiellos innige Vertrautheit. Manon las mir die Gedanken von den Lippen ab. Sie hatte eine ganz eigene Art, das Kinn vorzuschieben und die Stimme zu heben, um das Wort zu ergreifen und, auf die Sekunde genau, das auszusprechen, was ich sagen wollte. Diese Verschmelzung versetzte uns in ein Glücksgefühl, das unseren Altersunterschied, unsere unterschiedlichen Biografien und die Tatsache, dass wir uns gerade erst kennengelernt hatten, auslöschte.
       Die Stunden verrannen. Die Speisen folgten aufeinander. Unsere Augen tränten im verrauchten Dunst. Beim Dessert zündete ich eine Zigarette an, um den Qualm in der Gaststube noch etwas dichter zu machen, und fragte sie schließlich nach ihrer Vergangenheit.
       »Versuchst du mich auszuquetschen?«, sagte sie abweisend.
       »Nein«, sagte ich, während ich den Rauch eines Zugs nach oben blies. »Ich will nur wissen, ob es jemanden in deinem Leben gibt.«
       Sie lächelte und nahm die für sie typische Körperhaltung ein. Sie schien sich zu erinnern, dass es von nun an zwischen uns kein Misstrauen und keine Geheimnisse mehr gab. Da fing sie an zu sprechen, ohne abzuschweifen und ohne auszuweichen. Sie erzählte von ihrer traumatisierten Kindheit, ihren Jahren im Pensionat, die im Zeichen der dauernden Bedrohung durch einen unbekannten Mörder standen, den seltsamen Besuchen ihrer Mutter, die unaufhörlich betete. Dann ihre Jugend in Lausanne, das Gymnasium und die Universität, wo sie sich innerlich gefestigt hatte. Sie hatte damals ein Netz von Freunden und »sicheren« Orten, und sie stützte sich weiterhin auf ihre familiären Bezugspersonen: ihre Mutter, die sie seit ihrer »Wiedergeburt« an jedem Wochenende besucht hatte, ihre Großeltern väterlicherseits, die in Vevey wohnten, und Doktor Moritz Beltreïn, ihren Retter, der eine Art wohlwollender Pate geworden war.
       Achtzehn Jahre.
       Sie hatte begonnen zu reisen, ihre Tür nicht mehr abzuschließen, sich nicht mehr ständig umzudrehen, um zu überprüfen, ob ihr jemand folgte. Ein neues Leben hatte begonnen. Bis zum Tod ihrer Mutter. Dann war plötzlich alles weg. Innere Ruhe,

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