Das Herz der Hoelle
vergessen.« Tatsächlich bedeutete ihm die Wohnung nichts. Wäre er Single gewesen, hätte es bei ihm so ähnlich ausgesehen wie in meiner Behausung: keine Möbel, keine persönliche Note. Materielle Annehmlichkeiten und vor allem der bürgerliche Komfort bedeuteten uns beiden nichts. Aber Luc hatte sich entschlossen, sich nach außen hin an die Spielregeln zu halten. Die eigenen vier Wände in Paris und ein Haus auf dem Lande …
Laure kam zurück mit einem Tablett, auf dem eine gläserne Kaffeekanne, eine Zuckerdose und ein Schälchen mit Gebäck standen. Sie schien mit ihren Kräften am Ende. Ihr langes Gesicht, das durch ihre grauen Locken noch schmaler wirkte, war angespannt und erschöpft.
Zum tausendsten Mal brütete ich über dieses Rätsel: Weshalb hatte Luc diese farblose, nicht besonders intelligente Frau geheiratet, eine Jugendfreundin aus seinem Heimatdorf? Sie war Arzthelferin, und das Gespräch mit ihr ähnelte einem Scrabble-Spiel ohne Buchstaben. Ich erinnerte mich an eine schlüpfrige Bemerkung Lucs über sie: »Die Missionarsstellung und sonst nichts.« Mir wurde übel.
Sie setzte sich mir gegenüber auf einen Schemel. Der niedrige Tisch stand zwischen uns. Ich fragte mich, wie viel Geld Laure und den Kindern wohl zur Verfügung stand. Ich musste mich erkundigen: Wie hoch war die Hinterbliebenenrente der Ehefrau eines Polizisten, der Selbstmord begangen hatte? Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über materielle Probleme zu sprechen. Nach einigen banalen Bemerkungen über den unveränderten Zustand Lucs erklärte Laure:
»Ich werde eine Messe für Luc lesen lassen.«
»Was? Aber Luc ist nicht …«
»Darum geht es nicht. Ich habe gedacht …«
Sie stockte und rieb langsam Handfläche gegen Handfläche.
»Ich möchte seine Freunde zusammenbringen, damit wir gemeinsam seiner gedenken. Einen Appell …«
»Du meinst: einen Appell an Gott?«
Laure war nicht gläubig – ein weiterer Unterschied zu Luc. Und die Idee eines Hilfeersuchens, eines äußersten Notrufs an Gott, gefiel mir nicht. Heute gedachte man Gott nur noch bei bedeutsamen Ereignissen: Taufe, Heirat und Tod … Ein Inventar von Daten in Schwarz-Weiß.
»Es gibt nicht nur die religiöse Seite«, fuhr sie fort. »Ich habe mich ein bisschen über das Koma als medizinisches Phänomen kundig gemacht. Es heißt, dass das Umfeld einen positiven Einfluss haben kann. Einige Menschen sind nur deshalb aus dem Koma aufgewacht, weil man mit ihnen gesprochen oder sich ihnen liebevoll zugewandt hat.«
»Na und?«
»Ich möchte seine Freunde versammeln, um ihre Energie zu bündeln, verstehst du? Eine Kraft, die Luc vielleicht spüren wird.«
Das roch verdächtig nach New Age. Ich fragte in scharfem Ton:
»Welche Kirche?«
»Sainte-Bernadette. Ganz in der Nähe. Luc ist immer dorthin gegangen.«
Ich kannte die Kapelle, die an der Avenue de la Porte-de-Vincennes lag. Eine Art Bunker im Untergeschoss, der heute von einer tamilischen Gemeinde genutzt wurde. Vor einigen Jahren, als ich noch im Dezernat für Sexualdelikte arbeitete, hatte ich oft im Morgengrauen hier Zuflucht gesucht, nachdem ich die äußeren Ringstraßen mit ihren Scharen von Prostituierten abgeklappert hatte. Ich sagte:
»Der Pfarrer wird niemals damit einverstanden sein.«
»Weshalb?«
»Lucs Tat ist eine Todsünde.«
Sie lächelte bitter:
»Immer eure dämlichen Prinzipien. Aber du hast selbst gesagt, dass Luc noch nicht tot ist.«
»Das ändert nichts an dem, was er getan hat.«
»Deiner Meinung nach ist er also verdammt?«
»Hör auf. Die Kirche folgt gewissen Regeln und …«
»Ich habe gerade mit dem Priester gesprochen«, unterbrach sie mich. »Einem Inder. Die Messe findet übermorgen früh statt.«
Ich suchte nach Gründen, die es mir erlaubt hätten, mich über die Neuigkeit zu freuen. Aber nichts zu machen. Ich kam mir vor wie ein fundamentalistischer, engstirniger und reaktionärer Christ. Ich erinnerte mich an die Münze, die Luc in der Hand gehalten hatte und die ihn vor dem Teufel hatte schützen sollen. Laure hatte recht: Er und ich lebten im Mittelalter.
»Und du«, fragte sie, »weshalb bist du gekommen?«
Ihr Ton verriet ihren Argwohn. Sie hatte immer einen Feind oder zumindest einen Gegner in mir gesehen. Ich verkörperte für sie das Undurchsichtige an Luc,
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