Das Herz der Hoelle
bedrängte ihn nicht. Sex hat ihn nie interessiert. Immer seine Ermittlungen, immer seine Beterei. Und plötzlich, in diesem Sommer, hat sich alles verändert. Seine Lust schien … wiedererwacht zu sein. Er war geradezu unersättlich.«
»Das spricht doch eher dafür, dass er sich auf eure Beziehung konzentrierte, oder?«
»Mein armer Mathieu. Da haben sich wirklich zwei gesucht und gefunden.«
Sie hatte dies ohne die geringste Ironie gesagt. Sie fuhr fort:
»Ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Ehemann eine Geliebte hat, ist doch gerade diese Rückkehr der Leidenschaft. Der Mann findet wieder Geschmack daran, verstehst du? Außerdem spielt das schlechte Gewissen eine Rolle. Es ist eine Art Wiedergutmachung. Weil er mit einer anderen schläft, gewährt dir dein lieber Ehemann eine Art Entschädigung.«
Ich fühlte mich wirklich unwohl. Mir die Eheleute Soubeyras im Bett vorzustellen, das war, als würde man einem Priester unter die Soutane schauen. Ein Geheimnis entdecken, das niemand kennen möchte. Ich stand auf, um das Gespräch abzubrechen, und rückte endlich mit dem eigentlichen Motiv meines Besuchs heraus:
»Könnte ich … kann ich mich in seinem Arbeitszimmer umsehen?«
Sie stand auch auf und strich sich ihren grauen, von Fitzelchen des zerrissenen Tempos übersäten Rock glatt:
»Ich sag es dir gleich, du wirst nichts finden. Ich habe schon alles durchsucht.«
KAPITEL 12
Das Arbeitszimmer war blitzblank. Die gleiche künstliche Ordnung wie in Lucs Büro in der Kripozentrale. Wer hatte aufgeräumt? Laure oder Luc? Ich schloss die Tür, zog mein Sakko aus, legte das Holster ab. Auf den ersten Blick war alles unauffällig. Aber niemand ist unfehlbar – und ich konnte mir Zeit lassen.
Ich ging um den Schreibtisch und sein iBook herum, um die Fotos zu betrachten, die auf einem niedrigen Möbelstück vor dem Fenster standen. Amandine und Camille beim Ponyreiten, Schwimmen, Anfertigen von Masken … Eine Postkarte aus Rom mit den handgeschriebenen Sätzen: »Ich kannte die kleine Fabrik. Jetzt habe ich das große Werk gefunden!« Die »Fabrik« (unausgesprochen: »von Priestern« ) war eine Anspielung auf Saint-Michel-de-Sèze, mit »das große Werk« war das Priesterseminar in Rom gemeint. Ein anderes Foto zeigte einen Mann in blauer Arbeitsmontur, der einen Helm mit Stirnlampe trug. Er posierte triumphierend mit Seilen und Karabinerhaken vor dem Eingang einer Höhle. Zweifellos Nicolas Soubeyras, der Vater Lucs, der Höhlenforscher.
Luc hatte immer voller Bewunderung von ihm gesprochen. Er war 1978 in der Höhle von Genderer in den Pyrenäen, mindestens zweitausend Meter vom Ausgang entfernt, ums Leben gekommen. Damals beneidete ich ihn um diesen Vater, diesen Heroismus, sogar um diesen Tod, da ich nur einen Pseudo-Vater gehabt hatte, der einige Jahre später nach einem Abendessen, bei dem er allzu tief ins Glas geschaut hatte, in Harry’s Bar in Venedig einem Herzinfarkt erlegen war. Wie man sich bettet, so liegt man.
Ich beugte mich zu der Lamellentür des Möbels hinab, die verschlossen war. Ich versuchte es mit dem Schrank: das Gleiche. Ich nahm hinter dem Schreibtisch Platz und schaltete den Computer ein. Ich tippte ein wenig darauf herum und bemerkte, dass ich diesmal kein Passwort brauchte, um die Dateien zu öffnen. Nichts Interessantes. Ein Heimcomputer mit Rechnungen, Urlaubsfotos, Spielen. Ich öffnete das Postfach. Die privaten E-Mails waren ebenfalls uninteressant: elektronische Warenbestellungen, Werbesendungen, lustige Geschichten … Nur ein paar E-Mails erregten meine Aufmerksamkeit. Sie waren immer an den gleichen Adressaten geschickt und unmittelbar darauf gelöscht worden. Eine Zeile im Speicher, die jede verschickte Sendung anzeigte, war das Einzige, was davon übrig geblieben war. Die letzte Nachricht war am Tag vor Lucs Selbstmordversuch abgeschickt worden. Die genau Adresse lautete: unital6.com.
Ich gab diese Buchstaben in Google ein.
Tatsächlich existierte eine gleichnamige Website: www.unital6.com. Doppelklick. Ein Logo. Die Silhouette von Bernadette Soubirous, mit ihrem kleinen blauen Gürtel, tauchte auf einer Ansicht von Lourdes auf. Der Begleittext zu dem Foto war auf Italienisch abgefasst. Seit meiner Seminaristenzeit beherrschte ich diese Sprache perfekt.
Unital6 war ein ehrenamtlicher Verein, der Wallfahrten nach Lourdes organisierte. Weshalb hatte Luc so kurz vor seinem
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