Das Herz der Hoelle
dass du an einem großen Ding dran bist.«
»Überwachst du mich?«
Luc blickt weiterhin geradeaus auf die Straße. Rettungssanitäter schieben zusammenklappbare Tragbahren ins Haus. Polizisten in schwarzer Regenkleidung markieren mit Klebeband die Sicherheitszone um den Tatort und drängen die aufgeweckten Nachbarn zurück.
»Wie sieht es da drin aus?«
Ich zünde mir eine weitere Camel an. Der Fahrgastraum füllt sich im Rhythmus der Umdrehungen der Blaulichter mit blauem Dunst.
»Grauenhaft«, sage ich nach dem ersten Zug. »Ein Blutbad.«
»War das nicht absehbar?«
»Doch, eben. Die gute Frau hat uns angeschmiert. Ich habe ihren …«
»Du hast nicht durchschaut, worum es geht. Das ist alles.«
»Was soll das heißen?«
»Brigitte Coralin hat nicht mit dir gesprochen, weil sie Gewissensbisse hatte oder weil sie die Kleinen retten wollte. Sie hat aus Eifersucht gehandelt. Sie liebte diesen Drecksack. Sie liebte ihn, wenn er sie folterte, wenn er Kippen in ihrer Möse ausdrückte. Sie war eifersüchtig auf die Kleinen, auf ihre Qualen.«
»Eifersüchtig …?«
Luc nimmt eine Gitane.
»Ja, mein Guter. Du hast den Kreis des Bösen falsch berechnet. Er ist immer breiter und größer, als man glaubt. Irgendwann hätte Brigitte Coralin selbst ihre eigene Tochter getötet, wenn Coralin auch ein Auge auf sie geworfen hätte.« Er atmet den eingezogenen Rauch langsam und genüsslich aus. »Du hättest sie in Gewahrsam nehmen müssen.«
»Bist du gekommen, um mir eine Lektion zu erteilen?«
Luc antwortet nicht. Ein eingefrorenes Lächeln auf seinen Lippen. Die Männer von der Spurensicherung im weißen Overall steigen aus ihrem Dienstwagen aus.
»Ich habe dich nie aus den Augen gelassen, Mat. Wir haben den gleichen Weg genommen. Vukovar bei mir, Kigali bei dir. Die Kriminalpolizeidirektion bei mir, die Sitte bei dir.«
»Welcher Bezirk?«
»Louis-Blanc.«
Die Kriminalpolizeidirektion Louis-Blanc war für die heißesten Pariser Stadtbezirke zuständig: das 18., 19. und 10. Arrondissement. Etwas für harte Jungs.
»Der gleiche Weg, Mat, um ans gleiche Ziel zu kommen. Die Mordkommission.«
»Wer sagt dir, dass ich zur Mordkommission will?«
»Sie.«
Luc deutet auf die toten Kinder, die die Sanitäter zum Krankenwagen tragen. Die silbernen Decken flattern im Wind und geben hier und da den Blick auf Körperteile frei. Luc murmelt:
»Ich lebe, ohne in mir zu leben/Und mein Verlangen ist so stark/Dass ich daran sterbe, nicht sterben zu können … Erinnerst du dich?«
Kloster Saint-Michel. Der Duft von frisch geschnittenem Gras in den Gärten. Die Zigarettenstummel. Johannes vom Kreuz. Die Quintessenz der mystischen Erfahrung. Der Dichter bedauert, nicht gestorben zu sein, um endlich die Herrlichkeit des Reiches Gottes zu schauen.
Aber man kann diese Verse auch anders deuten. Ich habe häufig mit Luc darüber gesprochen. Der Tod, der für den wahren Christen notwendig ist! In sich denjenigen vernichten, der ohne Gott lebt. Sich selbst, den anderen und jeglichem materiellem Wert absterben, um in der Memoria Dei wiedergeboren zu werden … »Ich sterbe daran, nicht sterben zu können.« Augustinus hatte dieser Wahrheit schon vierhundert Jahre früher lautstark Ausdruck gegeben.
»Es gibt noch einen anderen Tod«, fügt Luc hinzu, als könnte er Gedanken lesen. »Du und ich, wir haben dem Materialismus abgeschworen, um nach den Geboten Gottes zu leben. Aber dieses spirituelle Leben ist eine andere Form der Behaglichkeit. Jetzt ist es Zeit, diesen beruhigenden Glauben aufzugeben. Wir müssen noch einmal sterben, Mat. Den Christen in uns töten, um Polizisten zu werden. Uns die Hände schmutzig machen. Den Teufel verfolgen. Ihn bekämpfen. Ihn verstehen. Auf die Gefahr hin, Gott zu vergessen.«
»Und dieser Kampf führt über die Mordkommission?«
»Tötungsdelikte: Das ist der einzige Weg. Bist du dabei oder nicht? Willst du dich wirklich von dir selbst befreien?«
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Nach der Sexualität und ihren Verirrungen ist der Kreis der Tötungsdelikte die Etappe, die ich immer ins Auge gefasst hatte. Aber ich möchte nicht von einer anderen Person geführt werden. Luc streckt die Hand nach den blauen Strahlenbündeln aus, die wie Stroboskope blinken:
»Heute Nacht bist du ein Risiko
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