Das Herz der Kriegerin
Einst eine stolze Kirche, ragten die Trümmer wie Zähne eines Untiers aus dem Boden. Oberirdisch mochte das Bauwerk bald verschwunden sein – doch unterirdisch bot es durch die Krypta hervorragende Möglichkeiten, unsere Waffen und auch Chroniken vor der Außenwelt zu verbergen.
Ein Klopfen an meiner Zimmertür riss mich aus meinen Überlegungen. Das würde wohl Vincenzo mit dem Leder sein, ging es mir durch den Kopf, doch als ich öffnete, blickte ich in das Gesicht von Sayd, der meinen römischen Freund begleitete.
»Dürfen wir reinkommen?«
»Da fragt ihr noch?«, entgegnete ich lächelnd und hielt die Tür auf, denn Vincenzo hatte tatsächlich Leder und Schneidemesser mitgebracht, um den Einband der Chronik abzumessen. Ich wies ihm den Platz an meinem Schreibtisch zu und während er sich sogleich an die Arbeit machte, trat ich vor das Regal, das mich um mehrere Köpfe überragte.
»Hast du dir schon überlegt, was aus der Bibliothek werden soll?«, fragte Sayd, worauf ich verwundert dir Stirn runzelte.
»Wie meinst du das?«
Sayd ließ seinen Blick ebenfalls über das hohe Regal schweifen, das vor Folianten und versiegelten Schriftrollen geradezu barst. »Du wirst höchstens die Chronik für dieses Jahr mitnehmen können, und vielleicht etwas Papier für die Monate danach. In der Zwischenzeit sollten die alten Chroniken eingelagert werden, denn es wäre möglich, dass wir länger als fünf Jahre bleiben müssen.«
»Länger als fünf Jahre?«, platzte es aus mir heraus. Ich hatte mit höchstens einem Jahr gerechnet.
»Der Krieg wird sich nicht von einem Tag auf den anderen beenden lassen.« Sayds Miene wurde ernst. »Ich … hatte wieder eine Vision. Kurz nachdem du gegangen warst …«
Meist überkamen ihn die Bilder still, doch manchmal zerrten sie seine Seele regelrecht aus dem Körper, sodass seine Hülle einfach zusammenbrach, während Seele und Verstand in der Zeit voran wanderten. War das passiert? Vielleicht hätte ich noch ein Weilchen länger bei ihm bleiben sollen …
»Ich sah das Burgunderwappen. Und das der Königsfamilie«, wehten seine Worte mein schlechtes Gewissen fort.
»Und was bedeutet das?«
»Die beiden verfeindeten Häuser wollen Verhandlungen aufnehmen. Allerdings wird der Fürst der Burgunder getötet werden.«
»Er wird was …?« Verständnislos schüttelte ich den Kopf. »Das wird die Verhandlungen zunichtemachen! Hast du den Mörder gesehen?«
»Leider nein, es war ein Schatten. Ich sah nur die Hand, die den Dolch führte, aber nicht das Gesicht.«
»Und wie sollen wir das verhindern? Wenn wir ihn während der Verhandlungen ergreifen, wird das den Friedensverhandlungen ebenso schaden wie der Mord an sich.«
»Wir müssen versuchen, den Mörder vorher zu finden. Alles deutet darauf hin, dass der Mord von einem Mann verübt wird, der Zugang zu den Verhandlungen hat«, erklärte Sayd.
»Das ist herzlich wenig an Information. Es könnte ebenso ein Adliger wie ein Bediensteter sein.«
Sayd atmete tief durch und zuckte mit den Schultern. »Wer kennt schon die Wege Allahs? Er gibt mir die Aufgabe und erwartet, dass ich etwas unternehme. Wir könnten natürlich auch einfach zusehen, was geschieht, immerhin ist der Burgunder der Feind des Dauphin!«
»Aber wenn er stirbt, wird das die Burgunder noch schlimmer erzürnen, und dann kommt dieses Land nie zur Ruhe!«
Und allein schon wegen Gabriel mussten wir dessen Landsleute endlich von der Geißel des immer wieder aufflammenden Krieges befreien.
Ich blickte auf die Chroniken. Ich würde mich also schon bald von ihnen trennen müssen. »Wie viel Zeit haben wir, bis der Anschlag stattfinden soll?«
Sayd schüttelte den Kopf. »Ich habe keine genaue Zeitangabe erhalten, aber ich habe auf die Landschaft hinter der Brücke geachtet. Früher als im Spätsommer oder Herbst wird es wohl kaum passieren, ich meine, gelbes Laub gesehen zu haben. Wir haben also genug Zeit, um uns auf den Angriff der Engländer auf Rouen zu konzentrieren.«
Ich presste die Lippen zusammen. Spätsommer oder Herbst – nur in welchem Jahr?
»Wir werden Gabriel eine Nachricht hinterlassen«, sagte Sayd, der meinen Gedanken vorausahnte. »Außerdem bleibt Vincenzo hier. Er kann ihm sagen, wohin wir geritten sind, nicht wahr?«
Der Venezianer, der eigentlich Römer war, blickte von dem Leder auf, das er in passende Teile geschnitten hatte, und nickte, was mir allerdings ein schwacher Trost war. Wieder Jahre voller Ungewissheit. Wie oft schon
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