Das Herz der Kriegerin
letztlich waren die Chroniken unser Gedächtnis, und wer weiß, vielleicht würde die Menschheit sie eines Tages zu Gesicht bekommen.
»Vorsicht!«, mahnte ich ihn, als der Stapel auf seinem Arm schwankte. »Nicht dass sie dir in den Dreck fallen, die Tinte weicht schnell auf.«
»Keine Sorge, ich lasse sie nicht fallen«, beschwichtigte mich Vincenzo.
»Und stapele sie sacht auf den Wagen, du weißt als Buchbinder nur zu gut, wie viel Arbeit die Einbände machen.«
»Jaja«, murrte er und zog von dannen.
»Ich muss Vincenzo recht geben«, sagte Belemoth, der etliche Bücher in einem Tuch auf dem Rücken trug. »Ich erlebe die Abenteuer auch lieber, als ich von ihnen lese.«
»Diesmal wird Vincenzo derjenige sein, der liest, du kommst ja mit.«
»Der Glückliche! Nun hat er die schönen Mädchen alle für sich!«
»Was ist eigentlich mit dem Mädchen, das du während unserer Abwesenheit kennengelernt hast? Wie wird sie es finden, wenn wir dich mitnehmen?«
»Sicher nicht gut. Immerhin muss ich keine Angst haben, sie könnte schwanger von mir sein.«
»Du solltest vor unserer Abreise noch einmal mit ihr reden.«
Belemoth nickte. »Das werde ich, versprochen.«
Als wir nach einer halben Stunde alle Bücher auf den Wagen geladen hatten, bemerkte ich eine Bewegung neben unserem Haus. Eine Frau. Brauchte jemand aus dem Dorf Hilfe? Im Moment hatten wir keine Schwangere, der Beistand geleistet werden müsste, und auch die Gesundheit der alten Frauen war recht gut. Dennoch schlich der Tod sich immer wieder ins Dorf, und meist waren wir es, zu denen die Menschen kamen, wenn sie sich Hilfe erhofften.
»Wer ist das?«, fragte Sayd, der unvermittelt hinter mir aufgetaucht war.
»Das werde ich gleich erfahren«, entgegnete ich und ging dann zu unserer Besucherin.
Nur wenige Augenblicke später stand ich vor Alix d’Azieme. Ihr dunkelblondes, von einigen silbrigen Strähnen durchzogenes Haar war nachlässig im Nacken zusammengesteckt, auch ihr dunkelblaues Kleid wirkte, als hätte sie es sich rasch übergeworfen. Mit angespannter Miene und auch ein klein wenig ertappt musterte sie mich.
»Alix, was führt dich zu mir?«, fragte ich lächelnd, nachdem ich einen kurzen Schulterblick zu Sayd geworfen und festgestellt hatte, dass er wieder zum Wagen gegangen war.
»Wollt ihr uns verlassen?«, fragte sie, denn es war nicht ihre Art, um den heißen Brei herumzureden oder eine Ausrede für ihre Anwesenheit zu finden. In ihren Augen sah ich beinahe kindliche Furcht, die eine Frau von über vierzig Jahren eigentlich nicht mehr haben sollte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte ich verwundert.
»Ihr ladet Sachen aus eurem Haus auf. Bücher.« Sie deutete nach vorn. War sie zufällig darauf gekommen oder spionierte sie uns nach?
Unsinn, sagte ich mir. Welchen Grund sollte sie dazu haben? Wahrscheinlich hatte sie mitbekommen, dass sich bei uns etwas regt. »Es stimmt, wir laden die Bücher auf und bringen sie von hier fort, aber nicht, weil wir euer Dorf im Stich lassen wollen, sondern weil es allmählich zu viele werden.«
Alix musterte mich prüfend, als versuche sie, hinter eine Lüge zu kommen. »Aber sie standen doch schon immer hier. Warum bringt ihr sie weg?«
Was sollte ich darauf antworten? Ich beschloss, die Karten auf den Tisch zu legen, zumindest soweit es ging.
»Wir müssen zurück nach Frankreich«, sagte ich. »Du weißt, wie das mit Sayd ist. Dass er das Zweite Gesicht hat.« Alix nickte. Das Zweite Gesicht war zwar nicht ganz passend, doch nur so konnte ich den Menschen hier begreiflich machen, was der Beweggrund für unser Fortgehen war. »Und du weißt auch, dass zwischen Frankreich und England Krieg tobt.«
»Ja, natürlich, aber was hat das mit uns zu tun?«
»So, wie wir geschworen haben, euch zu beschützen, haben wir auch einen Eid abgelegt, zum Wohle der Menschheit zu wirken. Wir müssen den Franzosen helfen. Im Grunde genommen sind sie eure Brüder.«
»Brüder, die unsere Vorfahren verjagt haben!« Alix schnaubte verächtlich. Ich wusste, wie sie über die Franzosen dachte. Obwohl weder sie noch ihre Mutter oder Großmutter direkt von der Flucht betroffen gewesen waren, hielt sich in ihrer Familie der Hass auf das französische Königshaus, das in seinem eigenen Land alle Katharer ausgemerzt hatte.
»Diese Menschen sind längst tot. Man darf den Nachfahren nicht anlasten, was ihre Vorväter getan haben. Jetzt setzt der englische König zum Eroberungsfeldzug an. Wir müssen uns wieder auf
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