Das Herz der Kriegerin
hätte ich ihn aus einem fernen Gedanken gerissen, dann setzte er seinen schwarzen Turm auf das Feld von Jareds weißem Springer. »Was führt dich zu mir?«
Ich löste mich vom Türrahmen, wo ich gestanden und ihn beobachtet hatte. »Ich habe die Nachrichten fertig und dachte mir, dass du vielleicht einen kleinen Zusatz für Jared machen möchtest, jetzt, wo du dich für einen Zug entschieden hast.«
Sayd lächelte nachdenklich und nickte dann. »Ja, natürlich. Danke, dass du daran gedacht hast.«
»Wie könnte ich das vergessen?«, antwortete ich, während ich die mir vollkommen unverständliche Aufstellung der Figuren betrachtete. »Ich kann immer noch nicht verstehen, was ihr beide an dieser Partie findet«, sagte ich mit einem Lächeln.
»Schach ist das königliche Spiel«, entgegnete Sayd, prüfte noch einmal den Stand seiner Figur und nickte zufrieden, bevor er an sein Schreibpult trat. »Zum einen spielt man es nicht schnell und zum anderen lässt man eine angefangene Partie nie unvollendet – egal, wie lange es dauert.« Er griff zur Feder. »Wenn du mit mir spielen würdest, bräuchte ich das Hin und Her mit den Tauben nicht«, sagte er zu mir, nachdem ich ihm die Schriftrolle für Jared gereicht hatte.
»Du weißt ganz genau, dass ich Jahrhunderte brauchen würde, um das Spiel so zu beherrschen wie du«, entgegnete ich. Die Regeln an sich waren nicht schwer zu verstehen, doch Sayds Züge waren vollkommen undurchsichtig – so, wie er es auch im wirklichen Leben hielt.
»Wir haben eine Ewigkeit Zeit!« Lächelnd reichte er mir die Schriftrolle zurück, wobei seine Finger sanft über meine Hand streichelten. Zarte Goldfäden durchzogen seine Iris, während sein Blick suchend über mein Gesicht streifte.
Verwirrung stieg in mir auf, wie so oft seit einigen Monaten, wenn wir uns mehr oder weniger zufällig berührten. Reichte dies, um meine Augen leuchten zu lassen? Manchmal wünschte ich mir wirklich, dass die farbliche Veränderung schmerzen würde, damit ich wusste, welchen Eindruck ich auf mein Gegenüber machte.
Sayd schien jedenfalls mit dem, was er sah, zufrieden zu sein, denn er zog sich lächelnd an sein Schachbrett zurück.
Sollte ich ihn fragen, ob ich Belemoth oder David begleiten durfte? Auch wenn mir der Sinn nicht nach Kleidern oder Schmuck stand, so wäre ich gern wieder einmal über einen Marktplatz geschlendert, einfach nur um zu schauen oder neue Tinte zu kaufen.
»Bring Belemoth die Schriftrollen, er wird nach London reiten«, nahm er meine Frage und damit auch gleich die Antwort vorweg. »Du solltest dich mit Vincenzo um das Binden der letzten Chroniken kümmern und dann deine Chroniken sichten. Dieses Mal werden wir sie fortschaffen müssen.«
In einem anderen Augenblick hätte ich wahrscheinlich darauf beharrt, mit nach London zu reiten, doch jetzt brannte seine Berührung immer noch auf meiner Haut und alles in mir war weich und milde und sträubte sich gegen einen Streit. Ich nickte also nur, band die blaue Schleife wieder um Jareds Schriftrolle verließ nach einem kurzen Blick auf das Schachspiel den Raum.
Der Abend kam um diese Jahreszeit recht schnell, ehe man es sich versah, wurde man von der Dunkelheit verschluckt. Während ich eine neue Kerze aus der Truhe unter dem Fenster holte, warf ich einen Blick auf die Straße und den Wald, hinter dem das letzte rote Tageslicht verschwand. Von den Dorfbewohnern entdeckte ich niemanden mehr, wahrscheinlich saßen sie alle bereits an ihren warmen Öfen. Belemoth war jetzt schon seit einigen Stunden nach London unterwegs, mit der Maßgabe, möglichst schnell zu reiten und sich möglichst kurz beim Taubenschlag aufzuhalten, um nicht aus Versehen einem der Dschinn zu begegnen, die Malkuth nach London entsandt hatte.
Nachdem ich die Kerze entzündet hatte, begab ich mich an meinen Schreibtisch, wo sich die Blätter unserer Chronik vom vergangenen Jahr stapelten, um später gebunden zu werden.
Mittlerweile füllten unsere Chroniken eine eigene Bibliothek und obwohl der Platz allmählich knapp wurde, hatte ich mich bisher strikt geweigert, sie aus dem Haus zu schaffen. Eines Tages würde es allerdings unumgänglich sein, sie endlich an einen Ort zu bringen, an dem sie vor Neugierigen und der Witterung geschützt waren.
Eine Burg wäre der beste Platz, hatte Sayd angesichts der zunehmenden Menge an Folianten gewitzelt. Tatsächlich hatten wir etwas Ähnliches gefunden – eine Ruine, nicht einmal einen Tagesritt von uns entfernt.
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