Das Herz der Kriegerin
hatte ich aufbrechen wollen, um ihn zu suchen. Doch das durfte ich nicht. Wir alle hatten damals auf dem zugigen Turm nahe el-Nefud einen Eid abgelegt – den Eid, unsere Fähigkeiten und unsere Unsterblichkeit dem Wohl der Menschheit zu widmen.
Ich nickte also, spürte wenig später Sayds Hand auf meinem Arm.
»Gabriel ist ein kluger Mann, er wird dich finden, egal wo du bist und wie lange es dauert.«
Mir entging nicht, dass es ihn quälte, diese Worte auszusprechen. Weil Gabriel auch ihm fehlte – und aus einem anderen Grund, an den ich besser nicht denken wollte.
»Du wirst einen Wagen brauchen, um all das abzutransportieren«, warf Vincenzo ein, um die unangenehme Stille zu überbrücken. »Schade, dass wir Ashar nicht hier haben, der hätte sie alle in ein Tuch geschlagen und auf seinem Rücken getragen.«
Die Erinnerung an meinen Freund, den ich schon seit hundert Jahren nicht mehr gesehen hatte, ließ mich ein wenig traurig zu lächeln. Ja, es wäre ihm zuzutrauen gewesen, dass er sich all meine Bücher auf den Rücken geladen hätte. Wann ich ihn wohl endlich wiedersehen würde? Auch Malik vermisste ich, obwohl wir uns am Anfang nicht hatten leiden können. Durch den Auftrag, den Derwischen zuvorzukommen, würde es sicher noch eine Weile dauern, bis wir wieder vereint waren.
»Ich glaube, wir bekommen es auch ohne ihn hin«, entgegnete ich und schaute hinüber zu Sayd, der den Blick noch immer nicht von mir ließ. »Wann, glaubst du, sollten wir mit dem Abtransport beginnen?«
»Noch in dieser Nacht, sobald Vincenzo mit dem Binden der letzten Chronik fertig ist.«
So schnell?, wäre es beinahe aus mir herausgeplatzt, doch ich hielt die Worte zurück und nickte nur, denn Sayd würde sich nicht umstimmen lassen.
4
W ährend das Dorf in tiefem Schlaf lag, begannen wir, die Folianten auf einen Wagen zu laden. Lampen brauchten wir dabei nicht, unseren Augen genügte das wenige Mondlicht, das hin und wieder durch die Wolken brach.
Die in dickes Leder gebundenen Bücher wieder in der Hand zu halten, ließ Erinnerungen in mir aufkommen. 1307 , das Jahr, in dem die Tempelritter vernichtet wurden und David endlich Rache nehmen konnte für die Ermordung seiner Familie. 1314 , die Schlacht in Bannockburn, wo dank unserer Hilfe die Schotten gegen den englischen König triumphierten. Die große Hungersnot 1325 , bei der wir zum ersten Mal erfahren mussten, dass wir zu wenige waren, um das Leid der gesamten Menschheit zu lindern.
1337 fiel der englische König Edward II . in Frankreich ein – der Beginn eines Krieges, der noch immer andauerte. Manchmal wünschte ich mir, wir hätten diesen König, der keine Skrupel hatte, seinen Vater ermorden zu lassen, getötet, Sayd hatte jedoch gemeint, dass dann ein neuer König folgen und das Ergebnis dasselbe sein würde, denn schon lange hatten die Engländer begehrliche Blicke auf Frankreich geworfen.
In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es zu mehreren Ausbrüchen der Pest, die uns wieder einmal unsere Hilflosigkeit vor Augen führte.
1381 erhoben sich in England die Bauern, während im restlichen Europa gestritten wurde, wer der wahre Anführer der Christen war. Diese Frage konnte auch auf dem Konzil von Pisa, an dem Vincenzo teilnahm, nicht beantwortet werden.
Und nun waren wir hier, die Chronik der Rettung des Dauphin hatte ich noch auf dem Schiff beendet. Was würde jetzt folgen?
Seufzend stapelte ich die Bücher auf den Tisch und wischte von einigen den Staub herunter, obwohl das nicht viel nützen würde, denn dort, wo wir sie hinbrachten, würden sie gewiss vollständig einstauben.
Ich las nie eine Chronik, nachdem ich sie niedergeschrieben hatte. Das war nicht notwendig. Vielleicht erinnerte ich mich nicht an jedes Wort, das gefallen war, doch in meinem Geist waren alle Ereignisse aufgereiht – was ich gesehen und gehört hatte, würde ich auch nach einem Verlust der Bücher jederzeit wiedergeben können.
Als ich im Regal das Buch mit der Jahreszahl 1295 entdeckte, war ich allerdings doch versucht, es aufzuschlagen, noch einmal darin zu lesen. Im letzten Moment versagte ich es mir allerdings.
»Ich frage mich, was zum Teufel du da alles aufgeschrieben hast«, jammerte Vincenzo, als er einen ganzen Arm voller Bücher an mir vorbeischleppte.
»Es steht jedem von euch frei, in den Chroniken zu lesen.«
»Danke, aber ich ziehe es vor, die Abenteuer zu erleben . Bei den meisten war ich ohnehin dabei.«
Das stimmte allerdings. Aber
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