Das Herz der Kriegerin
»Bisher war es doch immer so gewesen, dass Allah mir die Visionen geschickt hat, damit wir Menschenleben retten. Was, wenn das nicht mehr gilt? Wonach sollen wir uns richten?«
»Nach unserem Verstand. In den vergangenen zweihundert Jahren hat es überall Kriege gegeben und wir haben auch dann geholfen, wenn du keine Vision hattest. Deine Visionen stehen immer in einem größeren Zusammenhang.«
»Und was ist mit der Rettung der Katharer?«
»Auch das hatte einen größeren Zusammenhang. Immerhin sind ihre Nachfahren noch am Leben, oder? Alix und ihre Enkelinnen haben außergewöhnliche Fähigkeiten beim Heilen, diese Gabe ist sehr wertvoll und wird sich bestimmt über weitere Generationen erhalten.«
Sayd nickte einsichtig, aber viel zu schnell verschloss sich sein Gesicht wieder.
»Was bedeutet das jetzt für den Dauphin?«, hakte ich nach.
»Wenn ich noch etwas auf die Visionen geben kann, dann werden wir weiterhin versuchen müssen, ihn zurück auf den Thron zu bringen. Den einfachen Weg dorthin hat er sich mit dem Mordbefehl verbaut. Und ich weiß wirklich nicht, ob für dieses Land ein König gut ist, der persönliche Rache über das Wohl seines Volkes stellt.« Sayd schüttelte den Kopf.
»Und was sollen wir jetzt tun?«
»Am besten zurückreisen.«
Das überraschte mich ein wenig. »Und was ist mit den Menschen hier?«
»Du weißt, dass wir nicht alle retten, nicht allen helfen können. Vielleicht würde die Sache für die Franzosen besser ausgehen, wenn wir den Dauphin noch in dieser Nacht töteten, aber abgesehen davon, dass ich damit gegen die Weisungen der Vision verstoßen würde, glaube ich nicht, dass der Krieg dadurch ein Ende fände. Wir werden abwarten und uns derweil um unsere anderen Angelegenheiten kümmern. Und sollte ich wieder eine Vision empfangen, werden wir darauf reagieren.«
Sagte er das, weil er es allmählich leid wurde, die Fehler der Menschen nicht verhindern zu können?
Eine Antwort würde ich darauf nicht bekommen, denn ich stellte ihm diese Frage erst gar nicht. Schweigsam stapften wir zur Stadtmauer zurück, erklommen diese im ersten Schein des Morgens und machten uns wenig später auf den Rückweg zu unseren Kameraden.
In dieser Nacht hatte Vincenzo einen seltsamen Traum. Er war wieder in dem Haus in Rom, in dem sie damals den Dschinn zum ersten Mal begegnet waren, diesmal allerdings ganz allein. Irgendetwas sollte er finden, allerdings konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was das war. Ziellos irrte er durch die Räume, stieg über den Leichnam der pesttoten Magd, ließ dann die Treppe hinter sich und betrat den Raum, in dem sie den Geheimgang ausgemacht hatten. Dabei hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, doch wohin er sich auch wandte, konnte er keinen Gegner entdecken. Waren die Dschinn in der Nähe?
Bevor er eine Antwort darauf fand, stand er vor einer Wand, jener Wand, die seine Freunde und er aufgebrochen hatten, um den Ursprung des Weinens zu entdecken. Jetzt war um ihn herum alles still, es gab keine Stimmen und kein Weinen, aber dennoch verspürte er den Drang, den Gang zu öffnen, nachzusehen, was sich darin verbarg.
Mit bloßen Händen riss er die Bretter ab, bis das Loch groß genug war, um hindurchzusteigen.
Diesmal benötigte er keine Lampe, um nach unten zu gelangen, der Weg hob sich deutlich aus der Dunkelheit ab. Obendrein meinte er, ein seltsames Leuchten wahrzunehmen.
Als er noch ein sehr junger Bursche war, hatte er sich vorgestellt, dass so der Weg in die Hölle aussehen musste.
Dort unten, im Schein eines roten Lichts, sah er seine Freunde, umgeben von Rauch. Sie waren zu Dschinn geworden und kamen nun auf ihn zu, um ihm dasselbe Schicksal zuteilwerden zu lassen …
Erschrocken fuhr er auf seinem Lager hoch und blickte sich um. Er war noch immer in seinem Zimmer und noch war alles dunkel – und still. Doch gerade diese Stille beunruhigte ihn. Sollten nicht längst die ersten Morgenvögel singen? Er schloss die Augen und lauschte. Normalerweise war immer irgendein Rascheln zu hören, sei es von einem Igel, der durch Laub watete oder von einem Fuchs auf der Suche nach einem fetten Huhn.
Doch jetzt war es still wie in einem Grab.
Ein Schauder rann über den Nacken des Unsterblichen. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte nicht benennen, was es war, doch so, wie sich seine Lebensquelle zusammenzog, schien Gefahr im Anzug zu sein.
Rasch erhob er sich, raffte sein Nachthemd zusammen und schob es sich eilig in den Hosenbund. Dann
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