Das Herz der Nacht
hinunter in die große Gruft der Herren und in die der spanischen Bruderschaft führt.« Sie streckte die Arme aus und ging einige Schritte vor, bis sie eine Halbsäule berührte, wo der Chor auf das Seitenschiff stieß. Ihr Orientierungsvermögen war erstaunlich.
András griff wieder nach ihrer Hand. »Ja, ich sehe sie. Komm!«
Er sagte ihr nicht, dass er die Eingänge zu den verschiedenen Grüften kannte. Manche der Familiengrüfte waren nur durch eine im Boden eingelassene Steinplatte zu betreten, andere über schmale Treppen, die in die Tiefe führten. Und manche waren wohl gar nicht mehr zugänglich. Verschüttet, verloren, vergessen.
Sie stiegen die Treppe hinab, öffneten das Gitter und betraten die Gruft. Das Gewölbe zog sich unter dem gesamten Querschiff entlang. In der Mitte erkannte András einen später hinzugefügten Durchbruch, der in die große Pfarrgruft unter dem Mittelschiff führte. Auch zu den meisten Familiengrüften war nachträglich eine Verbindung gegraben worden, so dass man die Steinplatten im Kirchenboden nicht mehr anheben musste, um zu ihnen zu gelangen.
Doch eigentlich gab es keinen Grund mehr, hier herunterzukommen, und außer dem Pater und dem ungewöhnlichen Mädchen sahen die Toten in diesen Jahren sicher nicht viele lebende Besucher und schon lange keine Leichen mehr. Genauer gesagt seit 1783, als Kaiser Joseph II . aus Sorge um das Trinkwasser in den Wiener Brunnen die weitere Benutzung aller Kirchengrüfte und Friedhöfe innerhalb der Stadt verboten hatte. Seitdem waren die Städte der Toten noch stiller geworden, während die Körper ihrem Zerfall entgegendämmerten.
András sah sich um. Er hatte keine Schwierigkeiten, sich zu orientieren, auch ohne die von den Menschen fein säuberlich angebrachten Inschriften wie »Apostel-Altar« oder »Rechtes Seitenschiff«, um zu wissen, unter welcher Stelle der Kirche sie sich gerade befanden. András nahm die Witterung des Todes in sich auf und ließ den Blick schweifen. Hier unten fühlte er sich wohler als oben in der Kirche.
»Kommen Sie!«, rief Sophie, der es offensichtlich kein Kopfzerbrechen bereitete, mit ihrem Begleiter ohne Erlaubnis der Barnabiten mitten in der Nacht hier eingedrungen zu sein. »Dort hinten finden wir den großen Dichter, von dem Pater Antonius mir immer wieder erzählt hat. Wir müssen dem Luftzug folgen.«
Links von ihnen lag die Herrengruft mit den Särgen wohlverdienter Hofadliger. Sophie aber zog ihn nach rechts zu den Särgen der spanischen Bruderschaft, Gefolgsleute der Infantin Maria Anna, die – als sie Kaiser Ferdinand III . angetraut wurde – mit ihr nach Wien gekommen waren. Später schlossen sich der Bruderschaft auch einige Nicht-Spanier an. So auch der Römer Pietro »Metastasio«, wie sein Künstlername lautete, der als Hofdramaturg in den Diensten Kaiserin Maria Theresias große Erfolge feierte.
»Er hat im Michaelerhaus gewohnt«, berichtete Sophie mit einer Begeisterung, die angesichts der düsteren Gruft und ihrer Särge für jeden Menschen seltsam erscheinen musste. András jedoch faszinierte das Mädchen mit jedem Augenblick mehr. »Im vierten Stock. Vielleicht sogar in der Wohnung, in der Carl und Großvater jetzt wohnen. Aber das konnte Pater Antonius nicht so genau sagen.«
Sie ließ András los, drehte sich ein wenig zur Seite und legte den Kopf schief. Sophie machte einige Schritte nach vorn und dann wieder zurück. András beobachtete sie interessiert.
»Ich muss erspüren, wo der Luftzug am stärksten ist. Hier muss die Sargrutsche in der äußeren Wand sein.« Ihr Finger richtete sich genau auf die schräg ansteigende Rampe, die sich in der Finsternis verlor. »Dann ist es von hier aus der zweite Sarg!« Sie tastete sich vor, bis ihre Finger den Deckel berührten. Sophie wandte sich in András’ Richtung und strahlte ihn triumphierend an. András trat an den bronzierten Holzsarg, der von weitem wie ein Metallsarg wirkte. Die Bemalungen waren ein wenig verblasst, doch er stand noch immer fest auf seinen grünen Tierpranken.
»Mutter sagt, er soll ein mürrischer Mann gewesen sein, der nicht gern bei Hof erschien. Aber das glaube ich nicht. Ich denke, er war ein netter Mensch. Er hat den Töchtern der Kaiserin Unterricht gegeben, und sie durften in seinen Opern die Hauptrollen singen, wenn sie hier in der Burg oder in Schönbrunn aufgeführt wurden. Und er hat sich um Joseph Haydn gekümmert – kennen Sie seine Musik? Mutter spielt viel von ihm. Ich mag seine Stücke
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