Das Herz der Nacht
seine Ehre, das Einzige, was ihm von seinen menschlichen Zügen geblieben war. Er gab sich nicht der unsinnigen Hoffnung hin, er könne seine Seele aus der ewigen Verdamnis retten, doch vielleicht gelänge es ihm, seine Ehre zu bewahren?
Sophie wartete geduldig. Das Mädchen ahnte wohl, wie wichtig dieser Schwur sein würde. Für ihn und für sie selbst und für ihre Familie.
»Sophie, ich bin in keiner Weise ein guter Mensch, ganz im Gegenteil, ich bin eine Gefahr für Menschen, das hast du richtig gespürt. Und dennoch schwöre ich dir, dass ich weder dir noch deiner Mutter noch ihrem Bruder Carl oder ihrem Vater Schaden zufügen werde! Ich will über euch wachen und, soweit es in meinen Kräften steht, euer Schutz sein.«
Sophie schlang ihre Arme um seine Hüften und presste ihr Gesicht an seinen Leib. »Ich wusste es!« So verharrte sie reglos einige Augenblicke, während denen András die Empfindungen in sich aufnahm, die von dem Mädchen auf ihn überströmten: Wärme, Vertrauen, Zuneigung – Liebe? Wie lange schien das alles her. Ihr Duft gefiel ihm immer besser, und obwohl er den Blutdurst wie jede Nacht in sich brennen spürte, war das, was er dem Mädchen gegenüber in diesem Augenblick empfand, nicht das bekannte Gefühl von Gier. Er lauschte in sich hinein und gab sich dem neuen Empfinden hin, bis sich Sophie unvermittelt wieder von ihm löste.
»Nun geht es mir wieder gut. Kommen Sie! Ich wollte Ihnen doch die Frau zeigen, die nicht verwest ist. Machen Sie Licht, damit Sie sie richtig sehen können!«
András tat ihr den Gefallen und holte eine Lampe, die er am Abgang zur Gruft bemerkt hatte. Außerdem war seine Sehfähigkeit in dieser nahezu undurchdringlichen Finsternis tatsächlich sehr eingeschränkt. Auch er war in dieser Situation mehr auf seine anderen Sinne angewiesen, was ihn allerdings nicht störte. Dennoch leuchtete er nun mit Neugier in den aufgebrochenen Sarg und betrachtete die Tote, die den Blick zu erwidern schien.
»Und, wie finden Sie sie?« Sophie ließ sich auf die Knie nieder und strich – wohl um sich zu orientieren – mit den Fingern an der Kante des Sargbretts entlang. Dann streckte sie sich und berührte mit den Fingerspitzen die Hand der Leiche.
»Fühlen Sie nur! Kühl und trocken, wie altes Leder. Sie trägt Spitzenhandschuhe ohne Finger und hat ein Wachskreuz in den Händen, das schon ein wenig zerfallen ist. Aber ihr Kleid hat noch seine Rüsche. Und sehen Sie nur die Schuhe mit den hohen Absätzen! So etwas trägt heute niemand mehr.«
András beobachtete Sophie in ihrer Begeisterung für die Mumie, die sie sich mit fast zärtlichen Berührungen ertastete. Scheu vor den Toten schien sie nicht zu kennen.
Nicht nur sie! András hatte festgestellt, dass die Wiener ein sehr spezielles Verhältnis zu den Toten pflegten. Vor allem natürlich die reichen Wiener!
Vor fünfzig Jahren war es noch ausschließlich dem Adel und den Kirchenmännern vorbehalten gewesen, in eigenen Grüften begraben zu werden, in prächtigen Särgen mit Namenstafeln und Wappenzier. Und selbst wenn die Särge in den Grüften dem Auge entschwunden waren, erinnerten Epitaphen stets an den Verstorbenen, seine Werke und seine Stellung in der Gesellschaft.
Der Bürger oder Bauer dagegen wurde aufgebahrt, beweint und dann nach Sonnenuntergang in sein Grab gebracht, das er mit anderen teilen musste – mehrere Särge übereinander. Der Platz war knapp. Steine oder Kreuze mit Namen waren früher nicht vorgesehen.
Heute strebte jeder, der Geld hatte, danach, unvergessen zu bleiben und auch nach seinem Tod Macht und Einfluss jedem vor Augen zu führen. Bankiers und Kaufleute, Weinhändler und Gastwirte kauften auf den Friedhöfen draußen vor der Stadt Plätze, um Familiengrüfte zu erbauen. Kleine Kapellen, die in ihrer Pracht das Ansehen der Familie widerspiegelten. Und auch die Begräbnisse wurden zum Theaterstück. Man wollte es dem Adel gleichtun und ebenfalls mit einer schönen Leich protzen! Das ließ man sich etwas kosten. War die Feier früher nach der Aufbahrung und der Aussegnung in der Kirche beendet gewesen, so wurde die Fahrt zum Friedhof immer mehr zu einem Triumphzug, von unzähligen Schaulustigen an den Straßen gesäumt. Die Kirche wollte mit so etwas nichts zu tun haben. Doch es gab natürlich ein paar Wiener, die das große Geschäft mit dem Tod witterten und in die Bresche sprangen. Sie boten von der prachtvollen Aufbahrung bis zu einem geradezu fürstlichen Kondukt alles, was des
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