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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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bereits die Treppe heruntergelaufen. Ja, man könnte sagen, heruntergestürzt. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
    András unterdrückte einen Seufzer und fragte stattdessen betont ruhig:
    »Was gibt es, Goran?«
    Seine Hände flogen und malten hastig Zeichen in die Luft.
    »Ah, schon wieder Besuch. Wer ist es denn dieses Mal? Ein Kind? Das Mädchen? Welches Mädchen?« Goran legte sich die Hände auf die Augen. »Oh, Sophie ist gekommen. Mit ihrer Mutter, nehme ich an?« András legte die Stirn in Falten. »Ich dachte, sie habe gesagt, heute Nacht könne sie nicht kommen.«
    Goran schüttelte nachhaltig den Kopf und streckte einen Finger in die Luft.
    »Wie, das Kind ist allein gekommen?«, fragte András verwundert. Er drückte Goran ein Päckchen in die Hände, das einige Messer enthielt, und lief dann die Treppe hinauf in den grünen Salon, wohin sein Diener die unerwartete Besucherin gebracht hatte.
    »Da sind Sie ja, Graf András«, begrüßte ihn das Kind und erhob sich von seinem Stuhl, noch ehe er sich durch ein Wort zu erkennen gegeben hatte. Ihr Gehör war fantastisch!
    András trat auf sie zu und begrüßte sie. Unerschrocken schüttelte ihm Sophie die Hand.
    »Ihre Haut ist eisig! Tragen Sie keine Handschuhe?« Sie legte den Kopf schief, ohne seine Hand loszulassen, und András machte nicht den Versuch, sie ihr zu entziehen. »Kommt das allein von der Kälte draußen?«, fügte Sophie mehr zu sich selbst gewandt hinzu, und so verzichtete András darauf, eine Antwort zu geben. Obwohl es ihn reizte, die drängenden Fragen dieses außergewöhnlichen Kindes zu beantworten, das so vieles offen aussprach. Oft wollten die Menschen die Wahrheit gar nicht wissen, vor allem, wenn sie von ihrer Normalität zu weit entfernt lag. Keiner hörte dem Mädchen zu oder machte sich die Mühe, ernsthaft über ihre Aussagen nachzudenken. Zum Glück für ihn, musste András sich eingestehen.
    »Was für eine Überraschung, Sophie«, sagte er zu dem Mädchen, das noch immer seine Hand festhielt, die Stirn in Falten gezogen. »Ich habe nicht mit deinem Besuch gerechnet. Hat deine Mutter dich mit einer Nachricht geschickt?«
    Sophie schüttelte den Kopf. »Aber nein, sie weiß nicht, dass ich hier bin, und ich hoffe, dass wir es ihr auch nicht verraten müssen«, fügte sie treuherzig hinzu. »Sie wäre, glaube ich, ziemlich böse mit mir.«
    »Dann nehme ich an, sie hat dich allein daheimgelassen«, vermutete András. Sophie hob die Schultern. »Hilde, das ist unser Zugehmädchen, sagte, sie wäre mit ihrer Arbeit fertig, und sie würde es nicht einsehen, die halbe Nacht rumzusitzen und aufzupassen, dass ich in meinem Bett bliebe. Sie habe auch noch eine eigene Familie. Und so musste ich ihr versprechen, ganz artig zu sein und Karoline und Carl nichts zu verraten.«
    »Aha, deine Mutter hat sich das also anders gedacht. Wie bist du hierher gekommen? Wer hat dich gebracht?«
    »Niemand. Ich bin allein davongeschlüpft, nachdem Hilde gegangen war, noch ehe sie unten die Haustür abgeschlossen haben. Ich höre ja die Uhr von St. Michael schlagen.«
    »Du hast den Weg hierher ganz allein gefunden?«
    Sophie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das war doch nicht schwierig. Links dem Geruch der Gruft folgend an der Hauswand entlang, dann die Lipizzaner, unter dem Torbogen durch, der die Schritte hallen lässt, und dann nur noch geradeaus. Wenn sich auf der anderen Seite der Platz weitet und der Klang der Schritte und Wagenräder sich nach rechts verliert, ist es nicht mehr weit bis zur Haustür. Dort stehen diese Statuen, zwei auf jeder Seite. Die Falten ihrer Gewänder erkennt man gleich wieder, wenn man sie einmal ertastet hat. Und dann habe ich einfach geklopft und gewartet, bis mir Goran aufgemacht hat. Er war sehr freundlich zu mir und hat mich hier in diesen Salon gebracht, wo ich auf Sie warten konnte.«
    »Du hast dich also mit Goran unterhalten«, meinte András und überlegte, wie das blinde Mädchen und sein stummer Diener wohl miteinander kommuniziert haben mochten.
    Sophie nickte. Sie schien nichts Besonderes dabei zu finden. »Aber ja. Ich habe ihn gefragt, und er ließ mich mit seinen Händen spüren, ob meine Vermutungen richtig oder falsch sind. Ich musste ihm halt viele Fragen stellen.«
    Für das Kind war es ganz natürlich, eine Lösung zu suchen und zu finden, sich über ihre und Gorans Einschränkungen – nein, dieses Wort würde Sophie nicht verwenden – sich über ihre körperlichen Eigenheiten

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