Das Herz der Nacht
Bürgers Herz begehrte. Man konnte sechsspännig auf dem Friedhof vorfahren, Vorreiter bestellen und unzählige Lampen- oder Fackelträger, alle in wohlfeiner Uniform.
Und noch einen ganz wunderbaren Brauch hatte die Moderne den Wienern und ihren Toten geschenkt. Seit es diese Kästen gab, mit denen man Personen ablichten und in ein Bild bannen konnte, ratterten die Fiaker fröhlich durch die Stadt, in der die Familie mit ihrem Toten Platz genommen hatte, um zum Fotografen zu fahren und das Abbild des verstorbenen Mitglieds der Familie im Studio des Albin Mutterer auf eine Metallplatte bannen zu lassen.
Sophie erhob sich. »Wollen Sie auch noch die anderen Grüfte sehen?«
András verneinte. »Das verschieben wir auf einen anderen Tag. Die Glocke hat längst Mitternacht geläutet, und ich glaube, es ist besser, wenn ich dich jetzt nach Hause bringe.« Sophie zog einen Schmollmund, aber András ließ sich nicht erweichen.
»Wir wollen doch nicht, dass deine Mutter und Carl vor dir zurück sind und dein Fehlen bemerken.«
»Ich fürchte keine Bestrafung«, behauptete das Mädchen. »Ich weine nie, wenn sie mir den Hintern verhauen.«
»Und wenn sie dir verbieten, mich wieder zu besuchen, und dir einen Aufpasser zur Seite stellen, der nicht so nachlässig ist wie euer Zugehmädchen?«
Dieses Argument zeigte Wirkung. Ein Ausdruck von Entsetzen zeichnete sich in ihrer Miene ab, und sie griff nach seiner Hand.
»Dann kommen Sie schnell, András!«
Der Vampir löschte die Lampe und stieg mit dem Mädchen die Treppe zum Kirchenschiff hinauf. Er hatte vorgehabt, sie nur bis zur Wohnung zu begleiten, doch dann ging er mit ihr hinauf in ihre Kammer, half ihr die Schnüre und Knöpfe ihres Kleides zu öffnen und reichte ihr das Nachtgewand. Als Sophie sich in ihr schmales Bett kuschelte, das gegenüber der Schlafstatt stand, in der dem Geruch nach zu urteilen Karoline schlief, streckte sie noch einmal die Hand nach ihm aus.
»Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Nacht, András, mein Freund. Und ich freue mich auf Morgen, wenn ich Sie mit Mutter zusammen aufsuchen und ihrem Klavierspiel lauschen werde.«
András strich dem Kind über das Haar. »Ich wünsche dir auch eine gute Nacht und freue mich auf deinen Besuch.«
Sie schlief sofort ein und lächelte noch im Schlaf. András blieb noch eine ganze Weile vor dem Bett stehen, bis er in der Wohnung darunter die Tür hörte, die Karolines und Carls Rückkehr verkündeten.
Gerne wäre er hinuntergegangen und hätte sie nach ihrem Erfolg gefragt, hätte ihrer begeisterten Schilderung gelauscht und sich an ihrer Freude und ihrem Geruch berauscht, doch das würde vermutlich mehr Irritationen hervorrufen, als er zu lösen imstande war. Nein, er würde sich bis morgen Abend gedulden müssen.
Mit Bedauern zog sich der Vampir zurück, um sich in der nächtlichen Stadt auf die Jagd zu begeben.
»Was siehst du mich so an?«, erkundigte sich András, als er eine Stunde vor Sonnenaufgang in sein Palais zurückkehrte. »Ist schon wieder etwas vorgefallen, das mir kein Vergnügen bereiten wird?«, fragte er seinen Diener. Goran schüttelte den Kopf. Seine Hände begannen zu sprechen.
»Ah, du willst wissen, wie mein Besuch bei unserer Kriminalpolizei verlief? Ich habe mich gut geschlagen! Was ist? Du siehst noch immer misstrauisch drein. Wie? Nicht du bist misstrauisch, die Polizei könnte es noch immer sein?« András nickte ein wenig müde. Ein Gefühl, das sonst nur die nahende Sonne in ihm hervorrief.
»Ja, ich fürchte, Kommissär Hofbauer ist noch nicht ganz von unserer Unschuld überzeugt, und sein Untergebener Schobermeier würde mich am liebsten noch heute bei der Spinnerin am Ende eines Seils hängen sehen. Wir müssen wachsam sein, dass es unserem ›Freund‹ nicht gelingt, uns weitere Unannehmlichkeiten zu verursachen. Und ich werde mich bei Gelegenheit noch einmal sehr genau in den Kellern des Reviers umsehen, ob nicht der ein oder andere Gegenstand, den sie zu diesen Fällen aufbewahren, die Polizei auf eine falsche Spur führen könnte.« Seine Miene wurde grimmig. »Damit will ich sagen, dass ich keine Gegenstände aus meinem Besitz dort wissen möchte!«
Goran begleitete seinen Herrn nach oben und nahm ihm den Rock ab.
»Was ist noch? Was willst du wissen? Ob ich ihn kenne? Wen kenne?« András hörte, wie seine Stimme ungewöhnlich barsch wurde, und auch sein Diener bemerkte es wohl. Dennoch ließ er nicht locker.
»Ach, du meinst, so ein Verrückter, der uns
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