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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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noch eine Erfrischung auf der Terrasse servieren zu lassen, als ein junger Mann in den Salon gepoltert kam.
    Seine Kleider waren von Ruß verschmutzt, und sein Haar stand wild nach allen Seiten ab.
    »Wilhelm!«, rügte seine Mutter in vorwurfsvollem Ton. »Wie kannst du in diesem Aufzug in unsere Gesellschaft platzen? Wo hast du dich herumgetrieben? Wie riechst du denn? Du hast getrunken!«
    »Nein – ja, zumindest nicht viel«, verteidigte sich der Sohn. »Wir waren im Hafen unterwegs, als die erste Glocke geläutet wurde, und dann sahen wir auch den Schein über den Giebeln.«
    »Ist das Ruß?«, verlangte die Mutter zu wissen. »Und was hast du mit deinem Haar gemacht? Es ist auf dieser Seite viel kürzer.«
    »Mutter, das will ich ja die ganze Zeit berichten! Was glaubst du, warum ich geradewegs hierhergeeilt bin. Hört ihr nicht die Glocken schlagen? In Hamburg ist Feuer ausgebrochen!«
    Nun hatte er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Sie drängten sich um den jungen Mann und verlangten genaue Auskünfte. Schließlich besaß jeder der Gäste ein oder mehrere Häuser in der Stadt. Waren ihre Besitzungen etwa von den Flammen gefährdet?
    »Wo ist das Feuer ausgebrochen?«, erhob Charles Godeffroy die Stimme.
    »In der Deichstraße, im Haus des Tabakhändlers.«
    »Wurde rechtzeitig Alarm geschlagen? Ist die Feuerwehr vor Ort?«, fragte der Diplomat weiter.
    »Ja, das schon. Es gab Alarmrufe und Signalschüsse. Die Türmer läuten die Sturmglocken, und dann kam die Feuerwehr.«
    »Dann ist der Spuk bald vorbei«, meinte Senator Jenisch. »Ich weiß, dass unsere Feuerwehr im Augenblick über vierunddreißig Land- und elf Schiffsspritzen verfügt und dass in ganz Hamburg eintausendeinhundertfünfzig Feuerwehrmänner nur auf ihren Einsatzbefehl warten.«
    Die Gemüter schienen sich ein wenig zu beruhigen. Keiner der Gäste besaß ein Haus in der Nähe der Deichstraße. Diese gehörte heutzutage nicht zu den ersten Adressen.
    »Als ich dort weggegangen bin, hat das Feuer jedenfalls bereits auf einige benachbarte Speicher übergegriffen, die wie Zunder in die Luft gingen. Einer der Feuerwehrmänner sagte mir, dies sei kein Wunder, würden dort doch ausgerechnet Arrak, Gummi und Lack gelagert.«
    »Alles sehr gut brennbar«, murmelte András.
    »Bis zum Morgen ist der Spuk vorbei«, meinte Senator Jenisch, der sich nicht bange machen lassen wollte. Dennoch war die Stimmung dahin, und keiner wollte mehr etwas von einer Erfrischung auf der Terrasse wissen. Es sei schon spät, murmelten die einen und ließen ihre Kutschen vorfahren. Andere verabschiedeten sich, ohne einen Grund zu nennen. Bald schon waren alle Gäste auf dem Heimweg zu ihren Landhäusern oder zurück in die Stadt.
    András, der wieder einmal auf einen Kutscher verzichtet hatte, lenkte den neuen offenen Wagen nach Hamburg zurück.
    »Werden wir an dem Feuer vorbeikommen?«, fragte Sophie, die aufgeregt auf ihrem Sitz hin- und herrutschte.
    »Nein, zum Glück liegt der Deichstraßenfleet nicht auf unserem Weg«, entgegnete Karoline und fügte etwas schärfer hinzu: »Und wir werden auch keinen Umweg machen, um an dem Feuer vorbeizukommen, falls es das ist, was du als Nächstes fragen wolltest!«
    Sophie sah enttäuscht drein. »So ein Brand ist sicher eine aufregende Sache.«
    »Ja, und er ist gefährlich und für die Menschen, deren Häuser es trifft und deren Hab und Gut es vernichtet, eine Katastrophe! Das ist keine Jahrmarktattraktion, die man besucht, um sich zu belustigen und die Nerven ein wenig in Anspannung zu versetzen. Man weidet sich nicht am Unglück anderer.«
    Sophie zog die Lippe hoch. »So habe ich das auch nicht gemeint.«
    Die beiden hüllten sich in Schweigen, bis die Kutsche vor ihrem Haus am Jungfernstieg anhielt. András bot ihnen den Arm und öffnete die Haustür.
    »Kommst du nicht mit hinein?«, erkundigte sich Karoline.
    »Nein, ich werde die Pferde versorgen und dann in der Deichstraße nachsehen, wie schlimm es steht.«
    »Ha!«, rief Sophie ein wenig erbost, wagte aber nicht, ihn zu bitten, sie mitzunehmen. Vermutlich ahnte sie, dass Karoline sich dieses Mal nicht erweichen lassen würde.
    »Ich wünsche euch eine gute und sichere Nacht.«
    Sobald sich die Tür hinter Mutter und Tochter geschlossen hatte, führte er die Pferde davon und machte sich dann auf den Weg zum Hafen hinunter.
    Es war um fünf Uhr in der Frühe, als der Himmel sich bereits erhellte und András sich aufmachen musste, einen sicheren Ort für den Tag

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