Das Herz der Nacht
Sie kamen aus Altona, aus Bergedorf, Moorburg und Wandsbek, Altenwerder und Wohldorf. Und laut der Telegrafen hatten sich gar Helfer aus Lüneburg, Lübeck und Kiel mit Spritzenwagen auf den Weg gemacht. So sehr der Bürgermeister die Hilfsbereitschaft der umliegenden Städte begrüßte, so schwierig wurde es, die Maßnahmen zu koordinieren, und bereits am Abend musste er sich eingestehen, dass er den Überblick verloren hatte. Die Furcht breitete sich noch schneller als die Flammen durch Hamburg aus und versetzte die Menschen in Panik. Sie rafften ein paar Habseligkeiten zusammen, beluden Handkarren und Pferdewagen und verließen eilig die Stadt. Noch ehe die Nacht hereinbrach, lagen ganze Straßenzüge verwaist da.
»Sie können doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen und davonlaufen!«, rief Claasen zwischen Entrüstung und Verzweiflung schwankend. Er war erschöpft, doch er ahnte, dass er sich noch viele Stunden auf den Beinen werde halten müssen, bis diese Katastrophe ausgestanden war.
»Sollen sie ihre Frauen und Kinder aufs Land schicken, die Männer aber müssen hierbleiben und kämpfen. Sie müssen uns helfen und ihre Häuser verteidigen. Es geht um ihr Eigentum. Wie sollen wir an allen Fronten gleichzeitig sein?«
Doch nur die Bewohner des Kirchenspiels St. Katharina blieben und schlugen sich so beherzt gegen die Flammen, dass ihre Kirche und ihre Häuser verschont wurden. In den anderen Stadtteilen boten sich die verlassenen Häuser nicht nur den Flammen völlig entblößt dar, sondern zogen Scharen von Plünderern an, nun, da sich der Tag neigte und der dichte Qualm die Dunkelheit früher hereinbrechen ließ. Sie drangen in die Häuser, stahlen Geld und alles, was ihnen an Wert erschien, ja, sie beluden Fuhrwerke und Boote, um ihre Beute wegzuschaffen, oder sie brachen in die Keller ein und berauschten sich an den Weinvorräten. Ein Mob von Betrunkenen, mit Piken und Spitzhacken bewaffnet, wankte durch die Gassen. Bürgermeister Beneke ließ Soldaten zusammenziehen und den Feuerwehrleuten zur Seite stellen, dass sie nicht auch noch gegen den Mob kämpfen mussten.
Das Feuer breitete sich nun weiter nach Norden und Westen aus, übersprang das Alsterfleet und nahm sich die ersten Häuser am Neuen Wall. Und auch auf das Rathaus rückte das Feuer unerbittlich zu.
Währenddessen saß Karoline an ihrem Flügel, den András ihr als Erstes hier in Hamburg gekauft hatte, und spielte wie besessen. Von draußen klangen Rufe durch das offene Fenster und ungewöhnlich viele Karren und Wagen rollten durch die Gasse. Die Pferde wieherten unruhig. Frauen riefen aufgeregt durcheinander, Kinder plärrten, Männer fluchten. Doch Karoline bemerkte es nicht. Wenn sie am Flügel saß, zählte nur die Musik, und wenn um sie herum die Welt in Trümmer fiel.
»Mama! Wie kannst du nur hier sitzen und Klavier spielen, während Hamburg in einem Flammenmeer vernichtet wird!« Sophie stand in der Tür, die Haare zerzaust, das Kleid am Saum zerrissen.
Karoline ließ die Hände sinken. »Die Musik gibt mir Kraft und Sicherheit. Was könnte ich denn tun, um die Katastrophe abzuwenden? Glaube nicht, dass ich nichts mitbekomme. Unsere beiden Hausmädchen haben sich frühzeitig davongemacht, um zu ihren Familien zu eilen. Vielleicht haben sie Hamburg bereits verlassen. Vielleicht stehen ihre Wohnungen schon in Flammen.«
»Und dennoch unternimmst du nichts? Hörst du nicht die vielen Leute und Karren draußen. Sie sind auf der Flucht!«
»Und du meinst, auch wir sollen fliehen? Ein paar Sachen packen und davonlaufen?«
»Warum nicht?«, begehrte das Mädchen auf, dann zeichnete sich Entsetzen auf ihrem Gesicht ab. »András«, hauchte sie. »Wir könnten ihn nicht mitnehmen. Der Sarg wäre zu schwer für uns beide, und er würde auch gar nicht in die Kutsche passen.«
Karoline nickte. »Ja, das ist das Problem. Solange die Sonne am Himmel steht, können wir nichts machen außer beten, dass die Flammen uns nicht so schnell erreichen. Oder willst du, dass wir uns den anderen Fliehenden anschließen und András in seinem Sarg hilflos zurücklassen? Ich habe gehört, dass der Mob jetzt schon bereitsteht, die verlassenen Häuser zu plündern. Selbst wenn das Feuer nicht bis hierher kommt, würden wir ihn den Plünderern preisgeben. Das Risiko ist zu groß, dass ihn jemand in seinem Versteck aufspürt!«
Sophie ließ sich in einen Sessel fallen. »Das habe ich nicht bedacht. Wie konnte ich nur? Du weißt, dass ich András
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