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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Abschied. Nicht wie viele Jahre später bei Beethoven, an dessen Begräbnis zwanzigtausend Menschen teilgenommen und ihn bei seinem letzten Gang zum Währinger Friedhof begleitet hatten, so dass Militärpolizisten für Ordnung sorgen mussten.
    András drehte noch eine Runde unter kahlen Fliederbüschen und versuchte zu erspüren, wo der begnadete Komponist ruhte, der so jung von seinem Schaffen abberufen worden war. War es nicht eine Ironie des Schicksals, dass sein letztes Werk der Auftrag eines Requiems gewesen war, das er nicht mehr hatte vollenden können? Während Mozarts toter Körper noch aufgebahrt in einer Seitenkapelle im Stephansdom lag, wurde in der Michaelerkirche eine Seelenmesse gelesen, bei der die bis dahin fertiggestellten Teile des Requiems zum ersten Mal erklangen. Zur Ehre und zum Abschied ihres Erschaffers.
    András verließ den Friedhof und wandte sich durch die nur spärlich besiedelte Landschaft nach Osten, bis er auf den Seitenarm der Donau traf, der flussaufwärts die Leopoldvorstadt von der Stadt trennte. Unter kahlen Weiden schritt er am Ufer entlang und sah in die rasch dahinfließende bräunliche Flut. Noch war es nicht so kalt, dass sich die Eisränder gegen den Strom behaupten und weiter gegen ihn vorrücken konnten.
    Der Vampir genoss das Gefühl von Freiheit, das ihm die Natur gab. Zwischen den Mauern der Städte wuchs in ihm der Drang nach Weite fast wie der Blutdurst jede Nacht. Wie herrlich war es, frei auszuschreiten, unbeobachtet von Menschenaugen, unter deren Blicken er sich stets zügeln musste. Bald schon erreichte er die Stelle, an der sich der Nebenarm wieder mit der Donau vereint. Ein Stück weiter zog etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. Er folgte dem Ufer, bis er zwei knorrige Weiden erreichte, die sich weit über den Fluss neigten. Die Strömung zerrte an ihren langen, dünnen Zweigen. Das Wasser stand hoch und schäumte um die ausladenden Stämme. Und dort zwischen den beiden Bäumen hatte sich etwas Großes verfangen, das ihm nicht wie ein Stück Treibholz erschien. Nein, ihm war mit dem ersten Blick klar, worum es sich handelte. Dazu bedurfte es nicht einmal des Geruchs des Todes.
    András watete ins Wasser, ohne sich darum zu kümmern, dass er sich die Schuhe ruinierte und die Pantalons durchnässte. Das eisige Wasser gurgelte um seine Beine. Die Strömung war stark. Einem Menschen hätte sie bereits gefährlich werden können, obwohl das Wasser kaum bis über die Knie reichte.
    Er jedoch schritt unbeirrt voran, bis er das Strandgut erreichte, das vor nicht allzu langer Zeit ein lebender, atmender Mensch gewesen war. Er drehte den Körper um und sah in das Gesicht hinab. Ein junges Mädchen, das noch vor zwei Tagen frei und unbeschwert den Plänen und Träumen nachgesonnen hatte, die der Frühling des Lebens mit sich bringt.
    András hob sie auf und trug sie ans Ufer. Er legte sie in das von einer dünnen Schneeschicht bedeckte Gras und betrachtete sie nachdenklich.
    Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Sein Blick schweifte aufmerksam umher. Waren das Schritte hinter der Mauer dort? Ja, und dann ein kratzendes und schabendes Geräusch. Da war auch ein Lichtschein, der ihm zuvor noch nicht aufgefallen war.
    András beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Obwohl die Mauer kaum zwei Meter hoch war, umrundete er die von Efeu überwucherten Bruchsteine, bis er ein eisernes Tor erreichte. Die ineinander verschlungenen Stäbe waren verrostet, und die Angeln knarrten, als er einen der Flügel aufschob. Ein kleiner Friedhof breitete sich vor ihm aus. Die meisten Erdhügel waren verschneit. Manche ragten noch deutlich auf, bei anderen war die Erde über den Särgen mit den Jahren nachgesackt. Ein paar einfache Kreuze oder Steine waren zu sehen, die nicht nach der kunstvollen Hand eines Steinmetzes aussahen. András trat näher. Namen waren nirgends zu sehen, doch anders als der Friedhof in St. Marx wirkte dieser Ort trostlos, einsam, von Gott und der Welt verlassen.
    Wieder dieses schabende Geräusch. Dann ein Stöhnen. Neugierig trat András näher. Er passierte zwei frische Hügel, auf denen noch nicht einmal Schnee lag. Dann sah er die Lampe, deren Lichtschein kaum ein paar Fuß im Umkreis erhellte. Sie stand auf dem Boden neben einem Erdhügel, der zusehends wuchs. In der Grube stand ein Mann in gebückter Haltung. Als András noch einige Schritte näher war, konnte er die Schaufel in seinen Händen erkennen, die in dem winterlich harten Boden das scharrende

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