Das Herz der Nacht
schon damit klarkommen. Dennoch wäre es vielleicht nicht verkehrt, ihn auf das vorzubereiten, was möglicherweise auf ihn zukam.
Als sich das Fräulein Wallberg die aufregenden Ereignisse und Sorgen des Tages von der Seele geredet hatte, kehrte ihre Gelassenheit zurück. Sie war wieder die Künstlerin, die eins wurde mit ihrem Instrument und der Musik. Zuerst spielte sie ihm einige Blätter ihrer neuen Komposition vor, dann ließ sie ihn das Gelernte vom Vortag vortragen. Mit ihrem Stuhl etwas zurückgerückt, die Augen geschlossen, saß sie da und lauschte den einfachen Tonleitern, Sprüngen und Melodiefolgen. András spürte ihr wachsendes Erstaunen. Als er geendet hatte und sich zu ihr umdrehte, umwehte ihn ihr warmes Lächeln wie ein Sommerwind. Sie sah allerdings auch ein wenig ungläubig drein.
»Und Sie wollen vor mir behaupten, Ihre Hände hätten zuvor noch nie die Tastatur eines Pianos berührt? Graf Báthory, ich wage es nicht, Sie der Lüge zu bezichtigen, aber es fällt mir außerordentlich schwer, Ihre Worte zu glauben.«
»Das sind doch nur einfache Spielereien«, wehrte András ab, der nicht verstand, was sie so in Erstaunen versetzte.
Karoline machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ja, natürlich, aber darauf kommt es nicht an. Ihre Anschläge sind fantastisch, die Läufe sauber ohne Pausen und Brüche, jeder Ton von gleicher Kraft. Es ist, als würde ich meine eigenen Anschläge hören. Unglaublich«, sagte sie noch einmal.
András hob die Schultern. »Sie haben es mir so vorgespielt, also setze ich alles daran, es genauso zu wiederholen.«
»Dann sind Sie nicht nur musikalisch und haben Talent. Sie sind in der glücklichen Lage, über ein absolutes Gehör zu verfügen und ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und dazu schaffen Sie es auch noch, Ihre innere Vorstellung exakt in Bewegung umzusetzen. Ich gratuliere Ihnen und möchte Sie gleichzeitig warnen. Für den Anfang ist es vielleicht sinnvoll, wenn Sie meine Art zu spielen zu kopieren versuchen, doch verpassen Sie nicht den rechten Moment, Ihre eigene Seele mit der Musik zu verbinden. Nur dann beginnt sie zu leben und als etwas Eigenständiges und Großartiges zu erblühen. Alles andere bleibt für immer eine Kopie, ein wenig blasser als das Vorbild und niemals brillant!«
Die Worte gingen ihm durch den Kopf, als er die Stadt im Süden verließ und über das Glacis lief. András bog in den Rennweg ein, der von prächtigen Sommerresidenzen gesäumt wurde. Allen voran natürlich die beiden Belvederes des Prinzen Eugen von Savoyen mit dem langgestreckten Park nach französischem Vorbild, der eigentlichen Heimat des Prinzen, was die Wiener – wie es so ihre Art war – zu verdrängen suchten, seit Napoleon sie heimgesucht hatte. Wie hätten sie ihren Prinzen, den tapferen Türkenbezwinger, sonst weiterhin als ihren Helden verehren können?
Bedächtig stieg András vom unteren Palais, das dem Prinzen als privater Sommerwohnsitz gedient hatte, aber auch die Orangerie und den Prunkstall beherbergte, zum oberen Belvedere mit den repräsentativen Prachträumen hinauf. Das Schloss spiegelte sich märchenhaft in dem von Mondlicht erhellten Teich, der sich oberhalb der Freitreppe ausbreitete. Heute gehörten die beiden Schlösser zum unendlichen Besitz der Habsburger, nachdem die letzte Erbin des Prinzen längst verstorben und in Vergessenheit geraten war.
András verließ den Park und lief weiter, bis er den Friedhof von St. Marx erreichte. Mozart lag hier begraben, das Genie, dessen Werke er nun schon bald auf dem Flügel spielen und damit den Geist des Meisters heraufbeschwören würde können. András hatte ihn einmal während einer seiner Konzertreisen gehört und erinnerte sich noch genau an den Auftritt des jungen Künstlers.
Der Vampir streifte über den Friedhof mit den einfachen Gräbern. Sechs Särge wurden normalerweise übereinander in einem Grab beigesetzt. Die Namen der Beerdigten waren nur in den Kirchenbüchern vermerkt. Hier auf dem Friedhof gab es nur wenige Familiengräber mit steinernen Kreuzen, Figuren oder kleinen Krypten, in die die Namen der Toten eingraviert waren.
Mozarts Überreste lagen in einem normalen Bürgergrab. Kein prächtiger Leichenzug war seinem Sarg zum Friedhof gefolgt. Im kleinen Kreis hatten die Familie und Freunde bei der Aussegnung im Stephansdom von ihm Abschied genommen, ehe er nach Einbruch der Dunkelheit abgeholt und zu seinem Grab nach St. Marx gebracht worden war. Ein leiser, fast unbemerkter
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