Das Herz der Nacht
Wallberg? Fräulein Wallberg?«
»Ja, mein Vater, mein Bruder und ich …«, sie zögerte einen Augenblick und wirkte ein wenig verwirrt, ehe sie sich straffte und dann mit fester Stimme weitersprach. »Ja, also wir haben die Wohnung links im vierten Stock und noch die beiden Kammern darüber unter dem Dach.«
Der Kommissär nickte und nahm sich vor, später noch ein wenig genauer nachzufragen.
»Kennen Sie das verschwundene Fräulein Liliane gut?«
Karoline hob die Schultern. »So gut man einen Nachbarn kennt, mit dem man freundlichen Umgang pflegt.«
»Würden Sie vermuten, das Fräulein habe sich nachts ohne Wissen der Mutter mit einem Verehrer getroffen und wäre mit ihm durchgebrannt?«
»Ohne ihrer Mutter eine Nachricht zu hinterlassen?« Karoline schüttelte den Kopf. »Nein, das würde sie ihr nicht antun. Und ich habe sie auch nie mit einem jungen Mann zusammen gesehen oder von solch einem Treffen erfahren, falls Sie mich das als Nächstes fragen wollen.«
Genau diese Frage hatte ihm auf der Zunge gelegen. Hofbauer betrachtete das Fräulein eingehend. Die Menschenkenntnis, die er im Laufe seiner Dienstjahre erworben hatte, sagte ihm, dass sie eine ernsthafte junge Frau mit einer guten Beobachtungsgabe und einem scharfen Verstand war, deren Worte man beachten sollte und auf deren Wahrheitsliebe man sich verlassen konnte. Zumindest in diesem Fall.
»Nun gut, gehen wir einmal von einem Verbrechen aus«, sagte Hofbauer. »Dann müssen wir uns überlegen, wie es dazu kam, dass das Fräulein dem Täter in die Hände fiel. Wenn sie ihm die Wohnungstür geöffnet hat – und das um diese Zeit –, dann muss sie ihn gekannt haben.« Er wandte sich an seinen Untergebenen, der damit beschäftigt war, Fräulein Wallberg ausgiebig zu betrachten.
Hofbauer räusperte sich. »Schobermeier, fertigen Sie mir eine Liste von allen Bewohnern des Hauses an und von all jenen Personen, die sich gestern während des Abends oder in der Nacht hier im Haus befunden haben. Solange keine Leiche gefunden wird, müssen wir nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Dennoch können wir ein Verbrechen nicht ausschließen. Frau Pölzer, dürfen wir uns einmal in Ihrer Wohnung umsehen? Außerdem wäre es hilfreich zu wissen, wie Ihre Tochter aussieht und welche Kleider sie vermutlich bei ihrem Verschwinden getragen hat.«
»Ich habe ein Porträt von Liliane, das der Herr Ranftl vom vierten oben rechts gemalt hat. Das könnte ich Ihnen zeigen, wenn es Ihnen hilft.«
»Ich bitte darum!«
Die leidgeprüfte Mutter klammerte sich an den Arm des Fräuleins vom vierten Stock und warf ihm einen Blick zu. Fräulein Wallberg verstand den Hilferuf und bot an, mit hineinzukommen und einen Tee zur Besänftigung der aufgewühlten Nerven zu kochen.
»Ein starker Kaffee wäre mir lieber«, murmelte Schobermeier, als er hinter seinem Vorgesetzten die Wohnung betrat.
Die Fürstin sah auf das Billet in ihrer Hand herab, das der seltsame Diener des Grafen vor wenigen Minuten abgegeben hatte. Wieder einmal ohne auch nur ein Wort zu sprechen, legte er es mit einer Verbeugung in die Hand des Butlers, der es sogleich seiner Herrin aushändigte. Therese zwang sich dazu, sich erst in ihren Salon zurückzuziehen. Zu sehr fürchtete sie, sie könne sich beim Lesen des Inhalts zu einer unschicklichen Gefühlsregung hinreißen lassen. Wobei jede offen gezeigte Gefühlsregung, unschicklich gewesen wäre!
Nun starrte sie auf die wenigen Worte und versuchte sich klar darüber zu werden, warum sie so schmerzten. Sie waren höflich, ganz wie es der Takt vorschrieb, daran bestand kein Zweifel, und dennoch fühlte sie sich wie vernichtet.
Er lehnte ab. Zum dritten Mal lehnte der Graf ihre Einladung ab. Das erste Billet, das sie ins Palais Fries hatte schicken lassen, hatte ihn gebeten, sie in ihre Loge ins Burgtheater zu begleiten. Dann der Vorschlag einer nachmittäglichen Ausfahrt in den Prater, um ihr Vierergespann zu trainieren. Die nächste Einladung galt einem Souper im Palais der Esterházys. In seinem vier Stockwerke unter die Erde reichenden Kellergewölbe schenkte der Fürst – für ganz besondere Gäste sogar persönlich – edle ungarische Weine aus, und das schon seit der türkischen Belagerung! Nun ja, damals natürlich nicht der jetzige Fürst in Person. So alt war er nun auch wieder nicht.
Fürstin Therese Kinsky hatte fest damit gerechnet, dass sich ihr neuer Freund das nicht entgehen lassen würde, doch sie wurde enttäuscht.
War er denn ihr
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