Das Herz der Nacht
Dass ich sie zu Gesicht bekommen habe oder …« Er machte eine kurze Pause und sah Karoline in die Augen. »Oder dass es Ihre Tochter überhaupt gibt?«
Die Mutter zuckte zusammen. »Wie können Sie so etwas sagen?«, rief Sie gekränkt.
»Ich weiß, als Gast dieses Hauses, den Sie kaum kennen, spricht jede Konvention dagegen, so offen zu sein. Sie haben recht, wenn Sie mich rügen oder gar Ihrer Wohnung verweisen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass ich Sie mit meinen offenen Worten nicht kränken will. Nichts läge mir ferner. Ich spüre nur seit unserer ersten Begegnung das Leiden, das Sie von innen heraus zerfrisst. In der Nacht, als wir vom Spital zurückfuhren, war ich der Wahrheit schon sehr nahe. Nun hat sie sich mir selbst offenbart. Sophie ist der Grund, warum Sie sich vor der Öffentlichkeit verbergen, nicht die strenge Moral des bürgerlichen Hauses. Deshalb sitzen Sie hier, lassen ihr Talent ungehört verderben – nein, ich vergaß, Ihre Kompositionen kommen der Welt ja dennoch zu Ohren, doch nicht von diesen Händen und auch nicht mit Ihrem Namen, den man voll Entzücken lobt.«
Karoline presste sich die Hände auf die Ohren und sah damit ihrer Tochter auf erschreckende Weise ähnlich. »Quälen Sie mich nicht weiter. Lassen Sie uns in Frieden. Gehen Sie, Herr Graf. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen!«
András bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. Statt zu gehen, trat er auf sie zu und löste sanft die Hände von ihren Ohren.
»Ist Ihnen bewusst, dass Sie nun genauso unhöflich sind wie Ihre Tochter zuvor? Wenn wir es mit den Konventionen so genau nehmen würden. Nein, sehen Sie mich nicht so an. Ich will Sie weder verärgern noch quälen. Sie haben in den vergangenen Jahren genug Leid erfahren. Sie und Sophie. Wie viele Jahre sind es?«
»Sieben oder acht, wie Sie zu rechnen wünschen«, sagte sie mit Bitterkeit in der Stimme. »Es ist jedenfalls acht Jahre her, dass mein naives Vertrauen für immer zerstört wurde.«
»Dann haben Sie Sophies Vater nicht geliebt? Sie müssen noch sehr jung gewesen sein«, meinte András. Karoline zögerte. »Sie fragen sich, warum Sie ausgerechnet mir das Geheimnis anvertrauen sollen, das Ihr Herz seit so langer Zeit beschwert?«, fuhr er fort. »Ich kann und will Sie zu nichts zwingen. Ich bitte Sie nur und biete Ihnen an, Ihr Freund zu sein. Sprechen Sie mit mir, wenn Sie bereit sind, mir die Wahrheit zu offenbaren. Wenn nicht, dann schweigen Sie und spielen Sie noch einmal die Aufforderung zum Tanz, denn diese Musik ist Balsam für die wunde Seele.«
Sie rang noch immer mit sich. András nahm wieder auf dem Klavierhocker Platz und wartete still, bis Karoline endlich zu sprechen begann.
»Siebzehn Jahre alt war ich, und ich kann Ihnen nicht einmal sagen, ob es Liebe war. Ich war eben jung und dumm und sehr unschuldig. Ich habe ihn bei einer Parade gesehen. Er war beim Husarenregiment Graf Wurmser, und während er vorbeimarschierte, warf er mir Blicke zu. Ich hielt das Ganze für ein Spiel und ging darauf ein. Später sah ich ihn wieder und ließ mich überreden, ihn im Wasserglacis ›Zu den zwei Tauben‹ zu treffen. Ach, was für eine Glückseligkeit! Johann Strauß war mit seinem Orchester da und spielte zum Walzer auf. Ich war verloren, schwebte im Arm des feschen Husaren und lauschte seinen glühenden Worten, ohne zu verstehen. Wir tanzten den neuen ›Zampa-Walzer‹ und den ›Täuberln-Walzer‹, den Strauß allein für das Gasthaus komponiert hat. Es war der Zauber dieses Nachmittags. Und ich war so dumm und jung und ahnungslos. Später, als wir nicht mehr konnten und die Dämmerung sich bereits herabsenkte, schlenderten wir über das Glacis zu den Basteien hinüber, wo keine anderen Spaziergänger unterwegs waren. Wir plauderten und lachten, und dann legte er die Arme um meine Taille und küsste mich.«
»Und in diesem Zauber gefangen, haben Sie sich ihm unbedacht hingegeben«, ergänzte András und wollte hinzufügen, dass das nur verständlich sei, aber Karoline funkelte ihn zornig an. »Nein, so ist es nicht gewesen. Mein Vater will es auch nicht anders sehen. Natürlich, auch er ist ein Mann!«, sagte sie bitter.
András hob die Hände. »Halten Sie ein! Ja, Sie haben recht, diese Vermutung entlarvt die Arroganz des Mannes, der sich nur dieses Szenario vorstellen will. Bitte erzählen Sie weiter. Ich schweige nun und unterbreche Sie nicht wieder.«
Karoline holte ein paar Mal tief Luft, dann sprach sie mit leiser Stimme
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