Das Herz der Nacht
vor dem zu fliehen, was man nicht wahrhaben will.« Es gelang ihm nicht, den beißenden Spott aus seiner Stimme herauszuhalten.
»Hätte er dieses Verbot nur früher über mich verhängt!«, klagte Karoline. »Dann wäre das alles nicht passiert.«
»Nein, so dürfen Sie das nicht sehen!«, widersprach der Graf.
»Uns allen wäre viel erspart geblieben.«
»Das ist schon richtig. Sie wären von dieser Tat der Gewalt verschont geblieben, hätten aber auch Ihre Jugend in fröhlicher Geselligkeit, Lachen und Tanz versäumt. Sie wären hier allein im Haus zu einem geisterhaften Schatten verblasst.« Schon als er es aussprach, wusste er, was seine Worte auslösen würden.
»So wie Sophie, wollen Sie das damit sagen?«
Es lag nicht in seiner Absicht, ihren Schmerz zu vergrößern, doch noch mehr widerstrebte es ihm, sie zu belügen. »Ja, so wie Sophie«, sagte er so sanft wie möglich. »Warum tun Sie ihr das an? Warum muss das Kind büßen, wofür es nichts kann?«
Karoline hob hilflos die Schultern. »Sie ist meine Schande, und mein Vater wird nicht müde, es uns beiden deutlich zu zeigen, wann immer er sie zu Gesicht bekommt. Manches Mal bin ich fast froh, dass sie seine Miene nicht sehen kann, die er in ihrer Gegenwart stets aufsetzt.«
»Sophie spürt sie, deutlicher als Sie sie sehen können! Täuschen Sie sich da nicht. Sie hat den Verlust ihrer Augen mit anderen Sinnen ausgeglichen, die Sie niemals werden nachempfinden können. Sie sieht alles, wenn auch auf andere Weise.«
Karoline seufzte. »Ich weiß nicht, wie Sie sich dessen sicher sein können, doch ich glaube Ihnen. Ja, ich habe es längst geahnt, wollte es aber nicht wissen, weil es Sophies Los noch schlimmer macht.«
»Nein!«, rief András aus. »Nein, das ist die falsche Schlussfolgerung. Es ist ein Geschenk, das ihr Leben bereichern könnte, wenn Sie es nur zulassen und das Kind nicht länger hier einsperren würden. Sie begraben Sophie lebendig und sehen zu, wie sie dahinsiecht! Sagen Sie mir, ist es, weil sie blind ist oder weil Sie es nicht ertragen können, Ihre Schande zu offenbaren?«
András wusste, dass er mit dieser Frage viel riskierte. Es war ein harter Vorwurf, doch er wollte ihr nicht länger die Möglichkeit geben, die Augen zu verschießen. War nicht sie die eigentliche Blinde, die nicht sehen wollte? Sophie hatte längst zu sehen gelernt und war bereit, die Welt mit ihren inneren Augen zu erkunden, wenn man sie nur ließe!
Karoline verbarg das Gesicht wieder in den Händen und weinte lautlos mit bebenden Schultern. András wartete, ohne sich zu rühren. Sie musste den tiefen Schmerz, den sie so lange verborgen hatte, erst einmal lösen, ehe sie in der Lage sein würde, Entscheidungen zu treffen und etwas zu ändern. Er war zuversichtlich, dass er den Damm so weit eingerissen hatte, dass es unmöglich sein würde, ihn wieder zu errichten. Etwas würde sich im Leben von Karoline und Sophie ändern. Da war er sich sicher.
Draußen auf der Treppe erklangen Schritte, und noch ehe die Wohnungstür geöffnet wurde, war es András bereits bewusst, dass der junge Wallberg keinen schlechteren Zeitpunkt für seine Heimkehr hätte wählen können. Doch wie konnte er das Unheil verhindern? Ihm fiel nichts ein.
So blieb er, wo er war, bis die Stimme des jungen Mannes erklang und er wenige Augenblicke später ins Musikzimmer stürmte.
»Karoline? Ach, hier bist du.« Er blieb abrupt stehen, als seine Schwester das tränenüberströmte Gesicht hob und hastig versuchte, die Spuren mit ihrem Ärmel zu tilgen.
»Was ist hier los?«, fragte er barsch. Sein Blick huschte zwischen seiner Schwester und dem Gast hin und her, bis er sich fest auf den Grafen richtete.
»Es ist nichts, bitte geh«, wehrte Karoline ab, doch ihre Stimme strafte ihre Worte Lügen, und so wunderte sich András nicht, dass Carl Eduard der Aufforderung nicht Folge leistete. Stattdessen stemmte er die Hände in die Hüften und straffte den Rücken. In dieser, wie er vermutlich hoffte, drohenden Haltung, trat er einen Schritt näher.
»Was haben Sie meiner Schwester angetan?«
András wusste, dass es völlig gleichgültig war, was er sagte, dennoch hob er entwaffnend die Hände und versicherte, dass er ihr in keiner Weise zu nahe getreten wäre. Wobei ihm bewusst war, dass das eigentlich nicht stimmte. Natürlich hatte er den mühsam errichteten Damm eingerissen und die Flut hervorgerufen, die sie nun schmerzhaft überschwemmte. Er konnte sich nur zugutehalten, dass er
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