Das Herz der Nacht
hinaus schwärmte Schobermeier seinem Vorgesetzten vor.
»Der Apollosaal, der hatte was! Sind Sie je dort gewesen? Oder lieben Sie keinen Walzer?«
»Doch, schon«, musste er zugeben, »aber es ist kein Vergleich zu der Leidenschaft, die meine Frau diesen Tanzvergnügen entgegenbringt oder gar meine Tochter Irma.« Der Kommissär verdrehte die Augen.
»Ich habe den Apollosaal ja erst in seinen letzten Jahren besucht, als die vornehme Gesellschaft sich bereits abgewandt hat und auch das einfache Volk wie unsereiner Zutritt bekam. Es war einfach riesig! Man sagt, in den Sälen sollen fünftausend Kerzen gebrannt haben. Jeder Raum hatte einen Namen und war diesem entsprechend dekoriert. Es gab künstliche Teiche und Grotten und Wasserfälle und echte, fliegende Adler! Man nannte ihn nicht umsonst den Feenpalast des Brillantengrunds! An den Abenden, an denen ich mit meinem Mädchen dort war, spielte ein Orchester von sechzig Mann. Ich übertreibe nicht. Ich habe sie gezählt!«
»Aber weder Lanner noch Strauss«, gab der Kommissär zu bedenken. »Das war das Verhängnis, das dieses Haus in den Ruin trieb. Keine Gäste, kein Geld!«
Dem musste Schobermeier zustimmen. »So ist der Lauf der Dinge. Und die Bürger tanzen nun im ›Sperl‹, in der ›Goldenen Birn‹ an der Landstraße oder im ›Kettenbrückensaal‹ in der Leopoldstadt zu den Walzern von Johann Strauss.«
»Und deshalb ist der Feenpalast nun eine Kerzenfabrik, in der sich nahezu einhundert junge Frauen jeden Tag elf Stunden über Bottiche mit heißem Wachs beugen und Kerzen ziehen. Nein, ganz stimmt das natürlich nicht. Sonntags arbeiten sie nur fünf Stunden und an den kirchlichen Feiertagen haben sie frei«, korrigierte sich der Kommissär und ließ seinen Blick über die einst so prächtigen Gebäude schweifen, die nun den Schweiß der täglichen, harten Arbeit verströmten. »Gehen wir hinein, und hoffen wir, dass wir etwas erfahren.«
11. Kapitel
Sophie Wallberg
Da war er wieder, dieser Geruch, der ihn irritierte. Unauffällig nahm András die Witterung auf, während Karoline Wallberg ihn ins Musikzimmer führte. Er erkundigte sich höflich nach dem Befinden ihres Vaters und ihres Bruders.
Der Vater lag noch immer im Spital, der Bruder war bereits zu seinem Auftritt im Theater an der Wien aufgebrochen.
Und das Kind? Wo ist das Kind? Warum habe ich es bisher nicht gesehen?, wollte er fragen, unterließ es aber. Er würde es schon herausfinden. Das und warum in dieser Witterung eine so seltsam bittere Note schwang, die nicht zu dem kindlichen Geruch passte. Süß müsste er sein. Einfach nur unschuldig süß. Das war er aber nicht.
Hatte es mit der Schwermut zu tun, die er auch bei Karoline wahrnahm? Eine interessante Überlegung. András kam ihr ein wenig näher, als es notwendig gewesen wäre. Unwillkürlich wich Karoline zurück.
»Setzen Sie sich, Graf, und lassen Sie hören, wie Sie mit Ihren Übungen zurechtgekommen sind.« Etwas klang nicht echt in ihrer Stimme. Sie war eine Spur zu hoch und zu laut. Dem Blick fehlte die Ruhe, die ihm bei ihren letzten Treffen so angenehm aufgefallen war. Karolines Finger verkrampften sich unruhig in ihrem Schoß.
Er würde der Sache auf den Grund gehen. Später. Jetzt würde er erst einmal spielen. Ohne die Notenblätter aufzustellen, die Fräulein Wallberg ihm geschrieben hatte, spielte er alle Übungen und Melodien, so wie sie sie ihm vorgetragen hatte.
Sie versuchte ihr Erstaunen zu verbergen, lobte ihn für seinen Fleiß und mahnte noch einmal, er möge versuchen, einen eigenen Stil zu entwickeln.
»Vielleicht versuchen wir es einmal anders«, überlegte sie laut, griff nach einem leeren Notenblatt und füllte die Linien mit einer einfachen Melodie.
»Spielen Sie diese Reihe. Erst langsam, damit Sie die Töne zuordnen können, und dann als Melodie, als lebendes, atmendes Musikstück.«
András gehorchte und drückte die Tasten in der richtigen Reihenfolge. Dann ließ er die Hände sinken und sah sich die Noten an. Karoline hatte in der Eile nur die Notenköpfe eingezeichnet, so dass der Melodie noch kein Rhythmus innewohnte. Brauchte sie diesen nicht, um zum Leben zu erwachen?
Karoline dachte über seine Frage nach. »Ja und nein. Man kann eine Tonfolge auch zum Leben erwecken und sie zu Musik machen, wenn alle Töne gleich lang sind. Dennoch haben Sie auch recht. Wenn Sie mehr aussagen wollen, dann müssen Sie manches hervorheben, anderes in den Hintergrund treten lassen. Die Länge
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