Das Herz der Nacht
sieben oder acht Jahre alt sein und war sicher zu klein für ihr Alter. Doch das Seltsamste an dem Kind waren seine Augen. Es hielt sie weit aufgerissen und grob auf die beiden Personen am Flügel ausgerichtet, ohne sie jedoch zu fixieren. Ihre Augen waren schwarz, nein, die Pupillen waren so sehr geweitet, dass eine Iris nicht zu erkennen war. Der Blick verlor sich ein wenig über den Köpfen in der Ferne.
András konnte hören, wie Karoline krampfhaft atmete. Noch immer stand das Mädchen nur stumm in der Tür. Es sah den Gast nicht an, und dennoch fühlte András, wie er abgeschätzt wurde. Etwas Unbekanntes tastete nach ihm und streifte seinen Geist. Da begriff András, dass das Mädchen blind war. Vermutlich schon seit seiner Geburt oder frühsten Kindheit, und dass es gelernt hatte, sich auf seine anderen Sinne zu verlassen. Diese hatte es geschärft, wie alle Wesen der Nacht!
Es war das Kind, das die Stille brach, die mit unangenehmer Spannung auf ihnen lastete. »Ich kann den Tod riechen. Er ist wieder im Haus, nicht wahr?«
Karoline stöhnte. »Sophie, was redest du nur wieder daher. Habe ich nicht gesagt, du sollst oben in deinem Zimmer bleiben?«
»Das ist wahr, und ich habe mir auch vorgenommen zu gehorchen, doch dann habe ich die Musik gehört. Das Requiem. Ich bin nur in den Salon hinunter, um besser zu hören, da konnte ich ihn wieder riechen. Er ist bei dir. Ich spüre es.« Das Mädchen kam einige Schritte näher. »Sag, wie sieht er aus?«
»Wie ein normaler Mensch«, beantwortete András die Frage. Das Mädchen legte den Kopf schief und lauschte.
»Ich hätte nicht gedacht, dass er eine so schöne Stimme hat.«
»Nun ist aber Schluss mit dem Unsinn!«, rief Karoline um eine energische Stimme bemüht. »Sophie, dies ist mein geschätzter Gast Graf Báthory, der kommt, um das Klavierspiel zu erlernen, und das, verehrter Graf, ist Sophie. Sophie Wallberg«, fügte sie leiser hinzu.
András sah zu ihr auf und erhaschte noch die Bitterkeit, die er unterschwellig immer wieder erahnt hatte und die das Kind so deutlich ausstrahlte.
»Es ist mir eine Ehre, Fräulein Sophie Wallberg«, sagte er, trat vor und streckte die Hand aus. Er sah Karolines Finger zucken. Sie trat rasch einen Schritt vor. Vielleicht, um einzugreifen und dem Kind, das die entgegengestreckte Rechte ja nicht sehen konnte, zu helfen. Doch Sophie wandte sich ganz selbstverständlich dem Gast zu und legte ihre kleine, schmale Hand in die seine. Dort ruhte sie. Das Kind konzentrierte sich auf seine Sinne und tastete den Fremden wie mit unsichtbaren Fühlern ab.
András bewegte sich nicht. Er war seltsam fasziniert. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Menschen verließen sich zu sehr auf ihre Augen, die sie führten und ihre Entscheidungen bestimmten. Das Fühlen, Riechen und Schmecken stellten sie meist hintenan. Misstrauten diesen wunderbaren Sinnen zu Unrecht und vernachlässigten sie sträflich. Das war der große Unterschied zwischen ihm, dem Vampir, und den Menschen. Für András wog dieser Unterschied schwerer als alles andere, wie etwa der, dass er tagsüber im Verborgenen ruhen musste und dass er sich von ihrem Blut ernährte. Auch die Menschen töteten und aßen Fleisch von Tieren, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie nah diese Lebewesen ihnen eigentlich standen. Denn um dies zu erspüren, würden sie die Sinne benötigen, die sie über Generationen hatten verkümmern lassen.
Sophie zog die Hand zurück. »Sie sind kalt, wie ich es noch beikeinem erlebt habe. Menschen sind nicht so kalt, nicht wahr?«
»Sophie, du bist ungezogen«, rief Karoline und enthob ihn damit einer Antwort. »Geh hinauf in deine Kammer. Aber zuvor entschuldige dich bei unserem Gast. Graf András hat es nicht verdient, in unserem Haus beleidigt zu werden.«
Sophie legte den Kopf schief. »Es war nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen, Graf. Wenn ich das getan habe, dann entschuldige ich mich. Ich habe nur gesagt, was ich fühle, aber damit bringe ich immer alle in Verlegenheit«, fügte sie treuherzig hinzu, und zum ersten Mal fühlte es sich so an, als stehe ein Kind vor ihm. Dann zog sich Sophie zurück, wie Karoline es ihr befohlen hatte. András sah ihr nach, bis sie die Tür hinter sich schloss.
»Ich muss mich bei Ihnen für diesen Auftritt entschuldigen, Graf Báthory, es tut mir unendlich leid …«, begann Karoline ein wenig atemlos. András fiel ihr ins Wort.
»Was tut Ihnen leid? Dass Sophie die Unterrichtsstunde gestört hat?
Weitere Kostenlose Bücher