Das Herz der Nacht
an dem Schmerz selbst, der sich über Jahre hinweg immer weiter angesammelt hatte, keine Schuld trug.
Wie auch immer. Für Carl Eduard spielten diese Details keine Rolle, selbst wenn einer der beiden Beteiligten bereit gewesen wäre, ihm diese auseinanderzusetzen. Er sah nur die in Tränen aufgelöste Schwester und den Fremden und zog die Schlüsse, die die einfachsten in dieser Situation waren. András ahnte, was nun kommen würde. Der Vater lag noch immer im Spital, und der junge Mann war sich seiner momentanen Rolle als Oberhaupt der Familie bewusst. Er gab seiner Stimme einen unnatürlich tiefen Klang, um ihr mehr Autorität zu verleihen, als er den Grafen aufforderte, das Haus zu verlassen.
»Bitte, nein«, protestierte Karoline halbherzig, was ihr Bruder ignorierte.
»Gehen Sie, Graf Báthory, und danken Sie dem Herrn, dass ich Sie nicht fordere!«
András erhob sich. Es ärgerte ihn ein wenig, dass der Jüngling so mit ihm sprach, dennoch musste er sich auch ein Lächeln verkneifen. Welch dreiste Worte für einen bürgerlichen jungen Mann, der weder die gesellschaftliche Stellung besaß, einen Grafen zu fordern, noch – da war sich András sicher – die nötige Erfahrung mit dem Degen oder Pistolen, um es selbst mit einem weniger starken Gegner als ihm aufzunehmen. Dagegen schien sich seine Schwester der Ungeheuerlichkeit durchaus bewusst. Mit erschrockener Miene sprang sie auf und griff nach dem Arm ihres Bruders.
»Carl Eduard, sei still, du weißt nicht, was du sagst!«
Er befreite sich aus dem Griff seiner Schwester und sah sie – wie er vermutlich glaubte – mit überlegen männlichem Ausdruck an.
»Karoline, das ist nun nicht mehr deine Sache. Ich habe Vater versprochen, dass ich hier nach dem Rechten sehe, und genau das werde ich tun. Geh hinauf in dein Zimmer. Ich regle das hier. Der Graf wird nun sofort unsere Wohnung verlassen und es nicht wagen, jemals wieder hierher zurückzukehren!« Sein Finger wies zur Tür, als würde er einen Hund hinausjagen.
András sah in Karolines weit aufgerissene Augen, deren Schmerz nun eine andere Ursache zu haben schienen. Für einen Moment erwog er, dem Bürschchen eine Lektion zu erteilen, doch er verwarf den Gedanken wieder. Das hätte die Situation nicht gerade entspannt, auch wenn es ihm vielleicht Genugtuung bringen würde.
András neigte den Kopf. »Ich weiche dem Zorn, Herr Wallberg, auch wenn ich noch einmal betone, dass Sie die Situation missverstehen.«
Carl Eduards Miene blieb unverändert. Und so wandte sich András ab und verließ das Michaelerhaus, vielleicht, um es niemals wieder zu betreten.
12. Kapitel
Aristokratentheater
Schon als sich András dem Tor zu seinem Palais näherte, überkam ihn die Ahnung, dass etwas nicht in Ordnung war. Er schlug einen Bogen, schlenderte über den Josephplatz und umrundete die Reiterstatue. Sein Blick schweifte aufmerksam umher. Kein Mensch war zu sehen oder auch nur zu wittern. Die Fenster der Redoutensäle und der kaiserlichen Bibliothek waren dunkel. Und auch die Augustinerkirche lag verlassen da, wie es zu dieser Nachtstunde durchaus normal war. Und dennoch gab es etwas, das seine Sinne in Alarmbereitschaft versetzte.
Bedächtig näherte sich András dem Tor. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass seine Karyatiden nicht wieder mit Blut besudelt waren. Nein, nichts zu sehen, und dennoch stieg ihm der unverkennbare Geruch von Blut in die Nase. Nicht viel. Er musste also nicht fürchten, eine Leiche hinter seiner Tür vorzufinden. Dennoch handelte es sich wieder unverkennbar um Menschenblut.
András trat näher, bis er den Gegenstand auf der Stufe vor der Eingangstür erspähte. Endlich stand er vor ihm. Nun musste er sich nur noch bücken und ihn aufheben. András zögerte und sah auf das Messer zu seinen Füßen herab, dessen Klinge noch nass von menschlichem Blut war.
Was hatte das zu bedeuten? Erst das Blut an den Steinfiguren und nun ein Messer? Widerstrebend hob er es auf. Das Blut stammte nicht von dem gleichen Menschen, aber wieder von einer Frau, die er nicht kannte. András beugte sich über die Klinge und sog den Geruch prüfend ein. Oder hatte er diese Frau doch schon einmal gerochen? Je länger er den Duft einatmete, desto mehr verdichtete sich die Überzeugung, dass er ihn schon einmal aufgefangen hatte. Es war sicher keine Frau, die er kannte oder von deren Blut er gar getrunken hatte, nein, da war er sich absolut sicher. Eher eine Note, die einem im Vorbeigehen in
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